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Aufklärung bis Industrialisierung

Von einem ‚goldenen Zeitalter‘ für diese Generation konnte aber noch immer keine Rede sein, denn schon zeichnete sich am Horizont die In- dustrialisierung ab, die von ihren Akteuren ein hohes Maß an Mo- bilität, Flexibilisierung und Schnel- ligkeit erwartete – Anforderungen, die alte Menschen nur begrenzt erfüllen. Das ‚Proletariat der Älte- ren‘, für die es in den Fabriken kei- ne Verwendung mehr gab und die sich, sofern es Körper und Geist zuließen, mit Gelegenheitsarbeiten wie Straßenfegen oder Putzen für ein Almosen durchschlugen, nahm in den Städten rapide zu. Neben den Kommunen und privaten In- itiativen versuchten die Kirchen und Ordensgemeinschaften das schlimmste Elend der alten Men- schen zu lindern. 1888 beispiels- weise übergab eine vermögende Kölner Witwe dem Lindenthaler Pfarrer 18.000 Mark zumKauf eines Grundstücks mit Haus und Garten. Dort konnten alte, alleinstehende, weibliche Personen‘ lebenslang wohnen und wurden von Ordens- schwestern gepflegt. Die Aufgabe übernahmen die in der Kranken- pflege bereits erfahrenen Schwes- tern der Cellitinnen zur hl. Maria. Auf dem Grundstück steht heute das Seniorenhaus St. Anna. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versprach die ‚Bismarcksche So- zialgesetzgebung‘ mit der Ren- ten- und Krankenversicherung eine Besserung der Missstände, doch änderte sich zunächst nicht viel. Die Leistungen reichten nicht zum Überleben und wer Anspruch auf eine Rente hatte, konnte diesen erst mit 71 Jahren einfordern.

Im Zeitalter der Aufklärung schließ- lich ging man mit dem Alter milder um. Sympathie, Mitgefühl und Rea- lismus traten in den Vordergrund. England verabschiedete die ersten Armengesetze für Alte, mit stei- gender Lebenserwartung bildete sich die Rolle der Großeltern in der Erziehung der Enkel heraus. Das revolutionäre Frankreich feierte ein ‚Fest der Alten‘ und anstelle des frommen Rückzugs aus der Gesell- schaft genossen zumindest die, die es sich leisten können, den Ruhe- stand. Statt zu den Schriften von Aristoteles, der mit dem Alter Miss- gunst, Neid und Habgier verband, besann man sich auf die Ciceros. Der römische Gelehrte setzte sich schon in seiner Zeit für ein ‚aktives Alter‘ ein, das seine Ressourcen – Gelassenheit, Weisheit, Erfahrung und Fleiß – mithilfe körperlicher Be- tätigung möglichst lange bewahren sollte. Cicero ebnete den Weg für eine vorurteilsfreie Sicht auf die letz- te Lebensphase.

Licht am Horizont

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhun- derts sollte das Leben der älteren Generation geradezu revolutionie- ren. Dank medizinischem Fortschritt und eingeführten Hygienestan- dards stieg die Lebenserwartung von 44,8 Jahren bei den Männern und 48,3 Jahren bei den Frauen im Jahr 1900 auf 74,8 und 80,8 Jahre um die Jahrtausendwende. Wer imMittelalter gottesfürchtig vor den Altersgebrechen kapitulierte, engagiert sich heute ehrenamtlich, geht seinen Hobbies nach oder wird ambulant zuhause oder in Senioren- einrichtungen versorgt. 62 Prozent der 65 bis 85-Jährigen beurteilte ihre wirtschaftliche Situation im ver- gangenen Jahr laut der ‚Genera- li-Studie‘ als sehr gut bis gut, 31 Prozent als durchschnittlich und nur sechs Prozent als schlecht. Die Ge- neration 65+ ist längst keine Rand- gruppe mehr, sondern mit 21 Pro- zent Bevölkerungsanteil eine feste Größe, auf die sich Medizin, Poli- tik, Unternehmen und Gesellschaft einstellen.

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CellitinnenForum 4/2018

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