Blickpunkt Schule 4 2025

Ein Memelländer kehrt heim Philologen auf den Spuren der Geschichte

J ürgen Grabowski war vier Jahre alt, als er seine Heimat Memel verlassen musste. »Wir hatten ja noch Glück, dass wir vor der Katastro phe 1945 rauskamen«, sagt er. Mit der Katastrophe meint er den Einmarsch der Roten Armee und die damit ver bundenen Kämpfe, Misshandlungen und Leiden, die vor allem für die Zivi listen in den damaligen deutschen Ostgebieten damit verbunden waren. Dennoch holt auch ihn der Krieg ein. Seine Mutter, zwei Geschwister und er erlebten im heutigen Mecklenburg das Kriegsende und die Siegesfeiern der neuen Herren. »Aufgewachsen bin ich dann in Ostfriesland«, sagt Grabowski. Als Flüchtlingskind habe er durchaus Hänseleien, heute würden wir Mob bing sagen, erlebt. »Wir hatten wenig, im Winter waren die Fenster mit Eis blumen bedeckt. Wir schliefen in Klei dern auf den Matratzen. Das Wasser gefror im Keramikkrug, fließendes Wasser gab es nicht«, erinnert sich Jürgen Grabowski. Dennoch betont er, dass er trotz allem eine glückliche Kindheit hatte. Auf die Schule folgten ein Studium des Lehramtes und der Umzug an die hessische Bergstraße. Nach Stationen in verschiedenen Schulen wurde Gra bowski schließlich am Goethe-Gym nasium in Bensheim pensioniert, nach gut dreißig Dienstjahren. Es dauerte fast zwanzig Jahre, bis sich ein ehemaliger Schüler ent schloss, seinem damaligen Lehrer Jür gen Grabowski einen Brief zu schrei ben. »Er war schon eine prägende Lehrerfigur«, so Thorsten Rohde, der Grabowski den Brief schrieb. »Ich habe mich umso mehr gefreut, dass Jürgen Grabowski geantwortet hat.« Das Sommerfest des Gymnasiums, an dem sich Lehrer und Schüler kennengelernt hatten, wurde dann genutzt, um sich an alter Wirkungsstätte zu verabre den. Das beide Mitglied im hphv sind, erleichterte das zweite Kennenlernen.

hphv unterwegs

» v.l.n.r.: Thorsten Rohde, Jürgen Grabowski und Reiseleiter B. Motamedi auf dem Kathedralenplatz vor dem Denkmal des Herrschers des Großfürstentums Litauen, Gediminas, in Wilnius

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Gesagt, getan. Nach dem Aus tausch vieler Erinnerungen kamen die beiden dann auf die Kriegszeit zu sprechen. Rohdes Frage, ob Grabow ski denn einmal an seinen Geburtsort zurückgekehrt sei, verneinte dieser. Aber die Frage stand im Raum. »Es hat mir keine Ruhe gegeben«, sagt Grabowski. »Deshalb entschloss ich mich zu fragen, ob denn eine gemein same Reise nach Memel vorstellbar sei.« Rohde zögerte nicht. Gemein sam mit einem guten Freund und Rei seleiter sowie Grabowski begannen die Planungen. Dann war es so weit. Im Mai 2025, 81 Jahre nachdem Jürgen Grabowski seine Heimat hatte verlassen müssen, setzte er wieder einen Fuß auf den Boden seiner Geburtsstadt Memel. Das Trio besuchte die oft nicht mehr wiederzuerkennenden Orte der frühen Kindheit Grabowskis. Die deutsche Vergangenheit des Memelgebietes ist anhand seltener Bilder und Beschilde rungen in Teilen erkennbar. Besonders eindrücklich war der Besuch der Neh rung sowie des Thomas-Mann-Hauses in Nida. Dieser hatte dort eine Som

merresidenz errichtet, heute findet sich ein Museum dort. Am eindrück lichsten war der Austausch mit den Menschen vor Ort. Diese zeigten gro ßes Interesse an der Geschichte Gra bowskis. Ob sie Litauer, russische Li tauer oder Angehörige der Deutschen Minderheit waren, machte keinen Un terschied. Ironie der Geschichte: Li tauische Gesprächspartner bedank ten sich bei den Gästen dafür, dass die deutsche Bundeswehr eine Brigade in Litauen stationiert hat, um das kleine Land vor dem großen Nachbarn im Osten zu schützen. Vor dem Hinter grund der wechselseitigen Geschichte des kleinen Landes vor allem im 20. Jahrhundert eine besondere Beob achtung. Jürgen Grabowski war zufrieden mit der Reise. Er wisse noch nicht, ob er jetzt Frieden »mit der Sache« schlie ßen könne. Wer will es ihm verdenken. Wer nach über achtzig Jahren seine Geburtsstadt zum ersten Mal wieder betritt, der darf sich mit der Antwort Zeit lassen. Thorsten Rohde, stellvertretender Landesvorsitzender des hphv

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