animiert magazin nummer14 sommer

Die Nase der Titlis-Nordwand.

An frei hängenden Seilen lässt es sich wie Spinnen klettern.

The rocky promontory on the north face of the Titlis

Climbers shinny up fixed ropes like spiders.

SaugendeTiefe inder Titlis-Nordwand Scaling the north face of the Titlis Text & Fotos: Reto Ruhstaller*

Fürenalp über die Alp Hohfad hoch zum Wand- fuss. Wir hatten uns eine Linie im flacheren, linken Wandteil vorgenommen. Irgendwie ahnten wir den geschichtsträchtigen Moment, und so bohrten wir den ersten Bohrhaken gemeinsam mit der Hand an der Bohrmaschi- ne. Es ist auch der erste Bohrhaken in der über zwei Kilometer breiten Wand, ein gewaltiges Privileg, als Pioniere unterwegs sein zu dürfen. Auf halber Wandhöhe demotivierten uns schliesslich Grasbänder und Lawinen, die sich rechts von uns aus den Schneehängen oberhalb der Wand entluden, mal wieder kreisten meine Gedanken zu den riesigen Überhängen im Zentrum der Wand und zur Nase, die keck darüber hinausragt. Und plötzlich in den fernen Bergen Perus im Jahr 2003 fasste ich den Entschluss, eine direkte Linie durch diese Überhänge anzugehen. Dort war man von Lawinen oder Steinschlag ge- schützt, und der Fels schien exzellent zu sein. Zurück in der Schweiz war Bernd erneut Feuer und Flamme beim Projekt mitzutun, und so querten wir wenig später auf einem versteck- ten Band in der Wandmitte direkt unter die Nase. Der Blick hoch war respekteinflössend. Seil- länge um Seillänge mit Kletterei so steil wie in den heutigen Indoorhallen erschlossen wir. Am jeweils nächsten Tag stiegen wir an den fixier- ten Seilen frei hängend wie Spinnen wieder zum höchsten Punkt hoch. So entstand sie langsam, aber stetig: die Route «Land ohne Herren» 7c. schreckten uns zurück. In der Folge verloren wir das Interesse an der Wand und lebten unseren Erstbegehungs- drang an anderen Wänden der Schweiz aus. Doch immer

Auf dem Bauch liegend schieben wir uns vorsichtig zur Felskante vor. Der Blick schweift weit hinunter auf das Kloster von Engelberg, die winzig kleinen Sonnenschirme des Res- taurants Wasserfall, das leuchtend grüne Gras des Golfplatzes und gleitet schliesslich direkt hinab über die an dieser Stelle 500 Meter hohe Wand. Im oberen Teil hängt sie bis gegen 50 Meter über, und so erscheinen die Platten in der Wandmitte, über die wir zu Beginn des Tages hochgeklettert sind, fast surreal. Wir befinden uns auf der von weither

sichtbaren Nase oberhalb der Überhänge der Titlis- Nordwand. Ein wunderba- rer Ort: oben so flach, dass man einen Gartentisch darauf setzen könnte; un- ten nur gähnende Leere.

Es gibt kaum ein schöneren Ort, um der Hitze und dem Trubel des Sommers im Tal zu entfliehen.

Soeben haben wir unsere Route «Land ohne Herren» fertig erstbegangen. Die erste alpi- ne Sportkletterei im zentralen Wandteil der Titlis-Nordwand, erstbegangen im Jahr 2006. Ein langer Weg führte zur Vollendung der Route. Bereits Anfang der Neunzigerjahre weckte die riesige Wand mein Interesse. Die sensationelle Freerideabfahrt «Galtiberg» schlängelt sich direkt dem Wandfuss entlang, und so waren die kompakten Platten und gewal- tigen Überhänge nicht zu übersehen. Auffal- lend waren vor allem die Knobs, die überall wie überdimensionale Warzen aus den Felsplatten zu wachsen scheinen. Es sind sogenannte Silexe, Überreste von Seeigeln, die auf den Ursprung der Kalkwände in der Tiefe der Urmeere zeugen. Es war ein Leichtes, meinen Kletterkol- legen erster Stunde, Bernd Rathmayr, Berg- führer und Geologe, davon zu überzeugen, in der Titlis-Nordwand einen Augenschein zu nehmen. Und so stapften wir Mitte Mai 1995 mit schweren Rucksäcken von der Talstation

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