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TRINKWASSER

Ein Dorf stoppt ein Bauprojekt wegenTrinkwassermangels

Das Dorf Enges im Kanton Neuenburg hat den Bau neuer Häuser verboten. Der Grund: Es gibt nicht genügend Trinkwasser. Laut einem Experten ist das eine «intelligente» Entscheidung, der auch andere Gemeinden folgen sollten.

Druck.» Laut Domeniconi gibt es Ge- meinden, die sich demografisch entwi- ckeln, ohne die Wasserinfrastruktur zu erweitern. Er nennt als Beispiel Mergo- scia, ein Dorf mit rund 200 Einwohnern im KantonTessin. «2018 befand sich das Dorf in einem grossenWassernotstand. Der Aquädukt, der vor etwa 40 Jahren gebaut wurde, reicht nicht aus, um eine Bevölkerung zu versorgen, die sich im Sommer durch den Tourismus vervier- facht.» Wasserqualität schützen Die Diskussion über Trinkwasser dürfe nicht nur quantitativ geführt werden, warnt Domeniconi. «In der Schweiz kann mehr als ein Drittel des aus dem Boden entnommenenWassers unbehandelt ge- trunken werden. Wenn wir jedoch un- sere Quellen nicht schützen, könnten viele von ihnen in Zukunft unbrauchbar werden.» Besonders beunruhigend ist die Situa- tion imMittelland, das intensiv landwirt- schaftlich genutzt wird. «70% der Ein- zugsgebiete enthalten Nitrate. Rund 60% der Grundwasserfassungen im landwirt- schaftlich intensiv genutzten Gebiet ent- halten gemäss der Gewässerschutzge- setzgebung zu hohe Nitratkonzentrationen. Deshalb wollen wir Gemeinden und Politiker für dieThe- matik der Wasserqualität sensibilisie- ren», sagt Domeniconi.Wenn rechtzeitig gehandelt wird, zum Beispiel durch die Vernetzung von Wasserleitungen zwi- schen Gemeinden oder durch die Er- schliessung neuer Quellen, wird die Schweiz in Zukunft keine grösserenWas- serprobleme mehr haben, betont Dome- niconi. «Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass der ‹Rohstoff› des Trinkwas- sers, also die Quellen, erhalten bleiben müssen.»

Rund 1500 Seen, 890 km 2 Gletscher und unzählige Flüsse und Bäche: Die Schweiz sollte alsWasserschloss Europas eigent- lich keine Probleme mit der Wasserver- sorgung haben. Stellenweise sind Ein- wohner und Bauern aber regelmässig mit Wassermangel konfrontiert. Dieses Phänomen wird durch den Klimawandel und die prognostizierte Reduktion von Sommerregenfällen zunehmen. Wassermangel auch bei den Nachbarn Die kleine Neuenburger Gemeinde En- ges mit 270 Einwohnern sorgt vor. Mitte April beschlossen die Behörden, ein Wohnprojekt für 140 Personen zu blo- ckieren und den Bau neuer Häuser für mindestens die nächsten zwei Jahre zu verbieten. Der Grund: der Mangel an Trinkwasser. Enges liegt wenige Kilome- ter vom Neuenburger- und Bielersee entfernt, aber auf 800 Metern Höhe. Die Gemeinde verfügt nur über eine einzige Wasserquelle. Aufgrund der Dürren der letzten Jahre reicht der Brunnen jedoch kaum aus, um den aktuellen Bedarf zu decken. Enges kann auf zusätzliches Wasser aus benachbarten Gemeinden zählen, doch diese befinden sich im Sommer und Herbst ebenfalls in Schwie- rigkeiten, wie Claude Gisiger, Bürger- meister von Enges, dem französisch- sprachigen Schweizer Radio RTS erklärte. Quellen und Grundwasser unter Druck In der Schweiz befinden sich rund 5% der Süsswasserreserven des europäischen Kontinents. Etwa 40% des Trinkwassers stammen aus Quellen, weitere 40% aus grossen unterirdischen Grundwasser- vorkommen und die restlichen 20% aus Oberflächengewässern, hauptsächlich aus Seen. Die Gemeinde Enges habe eine «intelligente Wahl» getroffen, sagt Raffaele Domeniconi vom Schweizeri- schenVerein des Gas- undWasserfaches (SVGW) gegenüber swissinfo.ch. «In der Schweiz haben wir das Glück,Wasser im Überfluss zu haben. Doch Quellen und Grundwasser stehen wegen der intensi- ven Landwirtschaft und der Ausweitung der Bautätigkeit zunehmend unter

DerTrinkwassertransport kann auch Energie liefern Das Trinkwasser für die Gemeinde Steinen (SZ) stammt aus dem Gebiet Engelstock fast 400 Meter über dem Dorf. Diese Höhendifferenz nutzt die Schwyzer ebs Energie AG, um Strom zu erzeugen. Die Gemeinde musste dieTrinkwasserleitung aus dem Jahr 1924 sanieren und nahm dies zum Anlass, die Wasserversorgung mit einemTrinkwasserkraftwerk aufzurüs- ten. Das rund 400000 Franken teure Kraftwerkvonebssolljährlich12063000 Kilowattstunden Energie liefern. Das entspricht dem Strombedarf von rund 40 Haushalten. Seit 2013 hat die ebs bereits ein ähnlichesWerk in Sattel in Betrieb. Mit Steinen wurde eine Kon- zession für die Wassernutzung über 40 Jahre abgeschlossen. Der produ- zierte Stromwird durch die kostende- ckende Einspeisevergütung (KEV) und deren Nachfolger, das Einspeise- vergütungssystem (EVS), vergütet. Das ganze Projekt kostet rund fünf Millionen Franken und umfasst den Kraftwerksbau, die Reservoirs, die Leitungen sowie die Sanierung der Brunnenstuben und die Fassung ei- ner weiteren Quelle. DasTrinkwasser lässt sich zur Stromproduktion nut- zen, weil die Höhendifferenz zwischen der Brunnenstube und derTurbine im Dorf 393 Meter beträgt. Dadurch ent- steht ein Druck von rund 40 Bar. Der Wasserstrahl schiesst mit 300 km/h auf eine Turbine, die er antreibt. Die maximale turbinierbare Wasser- menge beträgt 780 Liter pro Minute. Solche Kraftwerke gelten als umwelt- freundlich, weil weder Bau noch Be- trieb die Umwelt beeinträchtigen. Im Frühling war die Wasserversorgung von Sarnen (OW) mit einem Innova- tionspreis ausgezeichnet worden, weil sie mit fünfTrinkwasserkraftwer- ken Strom erzeugt. Sie plant fünf wei- tere Anlagen, die am Ende Strom für 600 Haushalte liefern sollen. sda

Luigi Jorio Übersetzung: Sibilla Bondolfi Quelle: Swissinfo, 7. 5. 2019

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SCHWEIZER GEMEINDE 7/8 l 2019

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