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MILIZPOLITIK: DIE TRENDS IN DEN SCHWEIZER GEMEINDEN

(vgl. Bericht Seite 62). Eine weitere Idee besteht darin, wie im Kanton Luzern schon geschehen, ab einer bestimmten Gemeindegrösse ein milizmässigesTeil- zeitamt einzuführen (vgl. Seite 66). Das Argument lautet, dass diese Ämter so- wieso bezahlt werden müssen, sodass die Kosten für die Gemeinde nicht allzu stark stiegen, der Aufwand aber klarer umgrenzt würde. Allerdings würde sich die Milizarbeit so einer traditionellen Er- werbstätigkeit annähern.

Erna Bieri ist Stadtpräsidentin vonWillisau (LU) imTeilamt. Bild: zvg

entwertet das Laienwissen. Und eine Milizbehörde, die mit Aufgaben so über- lastet ist, dass sie diese nur noch «be- rufsförmig» bearbeiten kann, entspricht ebenso wenig dem Ideal einer Milizbe- hörde wie eine, der wesentliche Aufga- ben abgenommen werden – mit dem Unterschied, dass eine solche Behörde zwar noch formal milizförmig ist, funkti- onal jedoch entleert wird. Die zentrale Schwierigkeit bei der Suche nach Lösungen ist aber folgende: Alle Bürger sind gleichermassen für das Funktionieren des Milizsystems verant- wortlich, indem sie sich mit ihrer Zeit und ihren Fähigkeiten einbringen.Trotz – stelle der Suche durch die Parteien könnten öffentliche Ausschreibungen eingeführt werden. Ein Effekt wäre der Aufbruch des faktischen Rekrutierungs- monopols der Parteien, indem Kandida- tenschichten erschlossen würden, die nicht aus demUmfeld der Parteien stam- men. Vielleicht würde so eine höhere Beteiligungsbereitschaft resultieren, oder es würde «verborgenesTalent» ans Tageslicht gebracht. Parallel dazu könn- ten öffentliche Werbeveranstaltungen stattfinden. Was die Rekrutierungsmög- lichkeiten betrifft, sind vor allem Junge, Frauen, Pensionierte und niedergelas- sene Ausländer in den lokalen Exekuti- ven stark unter- respektive nicht vertre- ten. Hier könnte ebenfalls angesetzt werden: Zu prüfen wäre, ob Rentner vermehrt für eine Behördentätigkeit zu begeistern wären. Auch könnten ver- mehrt jüngere Personengruppen mobi- lisiert werden (vgl. Berichte Seite 70/72). Damit böte sich die Chance, politisch Interessierten der jüngeren Generation eine aktive Beteiligungsmöglichkeit zu

Neben materiellen gibt es auch immate- rielle Bedingungen, die die Bereitschaft zum Engagement beeinflussen können. Zu nennen sind besonders die Attrakti- vität und das Ansehen der Behörde. Die Ansprüche der Gesellschaft haben zuge- nommen. Die Schwelle, Milizbehörden zu kritisieren, ist sehr niedrig. Darum trauen sich viele eine Milizarbeit nicht mehr zu oder haben ganz einfach keine Lust, sich der öffentlichen Kritik aus- zusetzen und damit sich und ihr per- sönliches Umfeld zu belasten. Weil die Lokalparteien, die zentrale Rekrutie- rungsinstanz, Mitglieder verlieren, wird immer wieder über eine finanzielle Anerkennung der Parteiarbeit in den Gemeinden diskutiert, da diese Dienst- leistungscharakter habe. Das dürfte al- lerdings angesichts der generellen Skep- sis der Bevölkerung gegenüber einer Parteienfinanzierung kaum spruchreif werden, auch wenn eine solche auf Bundesebene in Form der – relativ ge- ringen – Beiträge des Bundes an die Par- teifraktionen bereits Tatsache ist. An-

eröffnen und sie nicht auf einer Warte- liste versauern zu lassen – was leider vorkommt. Erschwert wird dies durch höhere Mobilität und geringeVerwurze- lung der Jungen, die ihren Wohnsitz je nachArbeits- undAusbildungsort häufig wechseln.

Nirosh Manoranjithan sagt über sich selbst, er biete etwas Neues. Bild: Daniel Ammann

Es gilt, neue Potenziale auszuschöpfen Sicher ist: Zur Stärkung des Milizsys- tems müssen neue Potenziale der Frei- willigenarbeit ausgeschöpft werden. Klar ist aber auch: Auf die Schnelle ist das Milizsystem nicht reformierbar. Je- der pragmatische Schritt in welche Rich- tung auch immer hat Auswirkungen auf die Miliztätigkeit. Oft ist es gerade die entsprechende Massnahme, die an an- derer Stelle eine Entfernung vom Ideal des Milizgedankens bedeutet: Höhere Entschädigung macht die Miliztätigkeit zur Erwerbsarbeit, grösserer Zeiteinsatz macht sie zumVollamt, anspruchsvollere Aufgaben vermindern die Rekrutie- rungsbasis, und Professionalisierung

oder gerade wegen – der kollektiven Verursachung des Problems und fehlen- der Zuständigkeit wird die Lösungssu- che an die politischen Institutionen de- legiert. Beteiligungsbereitschaft wurzelt aber im sozialen Kapital oder, altmodi- scher formuliert: in den Bürgertugenden, derenTräger das Volk selbst ist.

Andreas Müller Inhaber Politconsulting, Leiter Milizprojekt beim Schweizeri- schen Gemeindeverband

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SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2017

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