VitaminW_02_2021_Ansicht

Titelthema

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Drei Fragen

Warum gerade ich?

Krankenhaus-Seelsorgerin Michaela Kuhlendahl hört schwerkranken Patienten einfach zu. Verändert sich durch eine schwere Krankheit die Einstellung zum Leben? M. Kuhlendahl: Ernste Erkrankungen hinterlassen eigentlich immer tiefe Spuren: Sich plötzlich an Leib und Leben bedroht und verletzlich zu fühlen, verunsi- chert und verzweifelt die Meisten sehr. Beeindruckend finde ich den eher kleinen Teil, der es schafft, sich in einer solchen Zeit zu entwickeln, wirklich Lebens­ bilanz zu ziehen, offen mit ihren Familien zu sprechen und sich den Ängsten zu stellen. Ich erlebe auch viele Patienten, die Leid kategorisch ablehnen und vor allem zornig sind, weil sie sich ihrer Gesundheit und Lebens- zeit beraubt fühlen. Sie bleiben lange untröstlich, weil sie mit ihrem Schicksal hadern. Mit welchen Fragen wenden sich die Patienten an Sie? M. Kuhlendahl: Wenn Menschen noch sehr erschrocken sind über ihre schlechte Diagnose, dann fragen sie mich als Pfarrerin: Warum gerade ich? Das finde ich nicht leicht zu beantworten, denn letztlich glaube ich an keinerlei „Sinn“, den eine Krankheit haben könnte. Auch nicht aus christlicher Perspektive. Eine Krankheit bleibt schicksalhaft. Im besten Fall können wir sie in eine Lebenserfahrung verwandeln, die uns etwas dank- barer auf die vermeintlich kleinen Dinge des Lebens schauen lässt. Wenn Menschen wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt, dann nehmen sie mich oft mit hinein in ihr Nachdenken über ihr Leben – also kein Fragen, eher ein Bilanz ziehen. Gibt es etwas, was Sie Menschen in einer derarti- gen Situation zur Hand geben können? M. Kuhlendahl: Das Wichtigste ist, einfach da zu sein, zuzuhören. Zu bleiben, auch wenn es mal keine Erklärung oder einen Trost gibt und das zusammen auszuhalten. Als Theologin und Seelsorgerin lade ich die Kranken ein, über ihre Ängste und unsortierten Gedanken zu sprechen, über ihre Vorstellungen von Tod und Sterben, über ihren Glauben

An Krebs Erkrankte sind nicht nur köperlich, sondern auch seelisch sehr belastet und brauchen in ihrer Situation Unterstützung und Hilfe.

Foto: © Tim Friesenhagen

Kraft und Zuversicht, Dankbarkeit und Demut Psychoonkologin Tina Stockhinger über die Lebenssicht krebskranker Menschen Seit gut 25 Jahren begleitet Tina Stockhinger onkologische Patienten im Petrus-Krankenhaus. Als Psychoonkologin mit einer langen, spezialisierten Ausbildung nimmt sie im Team neben Ärzten und Pflegekräften eine wichtige Rolle ein. Häufig fehlt den beiden Berufsgruppen im Klinikalltag die Zeit für längere Gespräche mit den Erkrankten oder deren Angehörigen. Etwa 40 Prozent der Krebserkrankten sind nicht nur körperlich, sondern auch psychisch extrem belastet und brauchen diese professionelle Hilfe. Zur Schwere der Erkrankung kommt häufig noch eine lange Dauer hinzu.

Foto: © privat

Ordentlich zu tun hatten die Schutzengel mit Ralf Richter. Die Familie genießt ihre gemeinsame Zeit heute noch bewusster.

aber Zeit und Geduld. Darüber hinaus liegen aber keine Nervenschädigungen oder sonstige Ausfallerscheinungen vor. Nur ein paar Erinnerungslücken rund um das Ereignis und den Tag sind geblieben. Ralf Richters Sicht aufs Leben hat sich seit dem Tag im Juni verändert. Er beschreibt es so: „Die Schutzengel hatten ordentlich mit mir zu tun. Sie haben mir einen Lebensretter samt Helfern geschickt, die alle ihre Aufgabe phantastisch gemeistert haben. Ich verdanke Achim Pagel mein Leben und dass ich noch weitere Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden verbringen darf. Meine Dankbarkeit ist nicht in Worte zu fassen. Der sehr guten Arbeit des Notarz- tes, der Feuerwehr, der Notaufnahme, der Ärzte und Pflege- kräfte auf der Intensivstation und der Kardiologie habe ich es zu verdanken, dass ich so schnell wieder auf die – anfangs wackeligen – Beine gekommen bin. Sie alle machen einen so wertvollen, lebenserhaltenden Job, der in meinen Augen viel zu wenig gewürdigt wird. Diese Meinung vertrete ich nach meinem Herzinfarkt nun noch viel mehr als ich es vorher schon getan habe. Danke! Was ich vor meinem Herzinfarkt mit einem gesunden Lebensstil vorausgesetzt habe, nämlich, dass ich gesund bin und bleibe, hat nunmehr einen höheren Stellenwert bekommen: Gesund zu sein ist nicht selbstver- ständlich! Und dann ist es umso wertvoller, wenn einem im richtigen Moment Helfer und Retter zur Seite stehen.“

rung empfinden einige Patienten das Lebensgefühl tiefer Dankbarkeit und Demut, das sich nach überstandener Krebserkrankung oft einstellt.“ Was aber, wenn die Erkrankung nicht mehr heilbar ist? „Das ist erfahrungs- gemäß die schwierigste Phase der Erkrankung, die oft begleitet wird von tiefer Hoffnungslosigkeit und schwe- ren Depressionen. Dennoch gelingt es einigen Menschen in dieser Situation, ganz in der Gegenwart zu leben und diese bestmöglich zu genießen. Sie akzeptieren so zum Teil besser, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt und verlieren damit sogar auch ein Stück weit die Angst vor dem Tod.“

Wandel: „Nach dem ersten großen Schock über ihre Diagnose entwi- ckeln viele Patienten eine Kraft und Zuversicht, die sie durch die Erkran- kung trägt und sich auch günstig auf den Krankheitsverlauf auswirken kann“, sagt die Psychologin. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen plötzlich nur noch positiv denken. „Viele weinen natürlich auch, was ich in der Situation nur angemessen finde. Andere haben plötzlich das Bedürfnis, offene Themen mit ihren Mitmen- schen zu klären und wissen nun viel mehr, auch kleine Dinge zu schätzen. Oder sie erfüllen sich, soweit möglich, langgehegte Wünsche. Als Bereiche-

Damit die Patienten nicht zusätzlich Depressionen oder Angststörungen entwickeln, setzt die Klinik soge- nannte Stress-Skalen ein, auf denen die Patienten zwischen 0 (gar nicht belastet) bis 10 (extrem belastet) ihre Verfassung bewerten können. „Bei einem Wert über 5 machen wir rasch ein Gesprächsangebot“, erklärt Tina Stockhinger. Viele Patienten nehmen das Angebot der Psychoonkologin an. DemThema Krebs begegnen die meisten Menschen mit Angst. So beobachtet es auch Tina Stockhinger in ihrem Beruf. Oft bemerkt sie bei ihren Patienten jedoch auch einen

oder Nicht-Glauben. Vielen tut es gut, wenn ich ihnen ein Gebet oder einen Segen anbiete. Das ist manch- mal der offene Raum, in den einfach alle Tränen, Ängste und Hoffnungen hineingepackt werden können.

Foto: © Cellitinnen

Vitamin W – Das Gesundheitsmagazin für Wuppertal – Ausgabe 2.2021

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