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Die Zunft - „Aus dem Mittelalter“

erfüllen. Es erstreckt sich auch auf die äußere Lebensform: die Ge- meinschaft wandert. Dieses Prinzip (das man besonders bei den östlichen Pilgerorden geleistet sieht) wurde nur bei den Bauhütten des frühen Mittelalters verwirklicht. Sie zogen mit Waffen und Werk- zeugen von Ort zu Ort, von Baustelle zu Baustelle. Sie waren keiner bürgerlichen Gerichtsbarkeit unterworfen, sondern hatten ihre eige- nen scharfen Gebote und Forderungen. Was sie an einen Ort band, war jeweils nur der Auftrag, das Werk. In dieser lebendigen Lebens- form wurzelt die Möglichkeit, Werke zu schaffen, die ganz aus kos- mischer Strenge gefügt sind. Dies ist mancher der frühen Bauhütten in lauterster Weise gelungen. Wie aus einem Guss scheinen die Dome der Gotik geschaffen, und sind doch von vielen einzelnen Händen zusammengefügt, die alle von einem Genius ergriffen, von einer Vision erleuchtet waren. Diese Tat ist nur die Möglichkeit im Geiste der Einhelligkeit. Der Begriff Einhelligkeit ist daher das zweite Gebot jeder Hütte, Bru- derschaft oder Zunft. Im Bruderbruch, in allen Bauhüttenordnungen und in vielen Zunftbüchern steht die „Einhelligkeit“ an zentraler Stelle. Die Einhelligkeit ist der Segen, ohne den ein Werk nicht ge- deihen kann. Sobald ein Bauhüttenmitglied nicht mehr mit der Ge- meinschaft einhellig war, durften seine Hände das Werk nicht mehr berühren. Der wichtigste Garant für die Einhelligkeit ist das Prinzip, dass jeder Streit, der zwischen Brüdern aufkommt, sofort in der Mit- te der Brüder geschlichtet werden muss. „Wo ein sich anfachet und sich erhebet, da soll sie ausgetragen werden“ (Bruderbuch). Nicht also ein fremdes Gericht konnte angefordert werden, den „Span“, den Streit zu ordnen. Das Gericht geschah „nachdem die Brüder sich erkennen“. Dieses Gericht – das in Vielem präzis an den ger- manischen Thing erinnert – hieß „Sprache“. Die Besitzer der „Sprache“ waren die geschworenen Brüder – da- her noch heute bei Gericht „Die Geschworenen“. Die Regeln, nach denen geschlichtet wurde, waren keine durch Staatsmacht gesicher- ten Satzungen, sondern freie „Absprachen“ und „Versprechungen“. Ihnen zu gehorchen war die ritterlich verstandene Ehre jedes ein- zelnen.

Ein klares Werk fügt der, der selber klar und gefügt ist. Eine echte Form schafft der, der selber Form hat. Wer etwas Gültiges bauen will, muss den Grund in sich legen. Einübung in ein Handwerk ist nicht in erster Linie ein Sich-Aneignen vieler äußerer Fachkniffe. Es ist ein innerer Prozess, ein Prüfen, Durchdringen. Ordnen und Fügen des ganzen menschlichen Wesens. Jeder handwerklichen Ausbil- dung liegt das Prinzip der Verwandlung zugrunde. Es geht darum, den Menschen so „ins Lot“ zu bringen, dass seine Gesinnung im- mer mehr dem überpersönlichen Sinn folgt, dass seine Maße immer mehr mit den objektiven Maßen übereinstimmen. So wächst er in das Geheimnis des Handwerks hinein und das Handwerk in ihn. Es entsteht in ihm die lebendige Beziehung zum Gestalten: das Ge- schick, das Raumbewusstsein und vieles andere. All dies kann man nicht im Einzelnen lehren und sich anlernen. Es wächst, in dem man es „einatmet“, ergreift und sich einverleibt. Immer weniger arbeitet dann der Fügende aus sich selbst. Immer mehr gehorcht er dem Handwerk, das ihm die Gesetze des Fügens vorschreibt. Das Ziel ist der Namenlose, der sich ganz zum Werkzeug der Notwendigkeit gemacht hat. Zu allen Zeiten gab und gibt es solche, die diese Arbeit des Sich-Ver- wandelns allein, in freier Bemühung leisten. Zu allen Zeiten gab und gibt es auch die Schulen, die dem Übenden bei dieser Arbeit Stütze und Richtmaß leihen. Man nannte diese Art von Schulen im Mittel- alter Bauhütte, Amt, Bruderschaft, Gilde oder Zunft. Im Wort Zunft steckt schon etwas vom Sinn des Unternehmens darin. Zunft kommt von einem alten Zeitwort, das Fügen bedeutet (wurzelverwandt: Zimmermann und ziemen). Die Zunftschulung besteht darin, den Schüler in seinem ganzen Wesen zu ordnen, zu fügen, zu gestalten – durch den Dienst des handwerklichen Fügens, durch das Lernen der kosmischen Proportionen und nicht zuletzt durch die Einfügung in die Gemeinschaft. Das erste, schwerste Gebot der Bauhütte, Bruderschaft und Zunft ist, dass sie ihren Sinn nur behält, solang sie die verwandelnde Kraft hat. Sobald sie einen starren Stil erhält, Gewohnheiten und Sicherheiten schafft, ist sie tot. Das Gebot der Wandlung konnten die einzelnen Schulen stets nur beim ersten Anfang ihrer Bewegung

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