Firstl-Report 89OEB

20 Jahre aktuell

Bildung-REPORT

Seite 5

Nix verstehen? Ursachenforschung: Analphabetismus ist nicht biologisch vererbbar

Die „SMS- und What’sApp-Sprache“ mit einem Trend zur Abkürzung und Drei-Wort- Sätzen tragen ebenfalls nicht gerade zu einer Förderung des Sprachniveaus bei. Und die automatische Wortvervollständigung hilft zu- mindest jenen, die zu den Alphagruppen über 2 oder 3 gehören. In einem Rundfunkinterview berichtet der Pädagoge eines Alphabetisierungskurses, dass einer seiner Schüler sogar einen eigenen Facebook-Account hatte. Und was hat er dort gepostet? „Hi“ war sein Standardwort. Und wenn ein anderer auf seiner Seite etwas gepostet hat – was dann? „Ich habe mit ,Hi’ geantwortet – oder auch einfach mal ein Foto eingestellt“. Die Angst, „entdeckt“ zu werden, lässt Analphabeten immer neue Strategien entwi- ckeln: „Ich habe meine Brille vergessen“, „Ich lese mir das zuhause durch“, „Ich habe mir leider die Hand verstaucht“ oder „Ich fülle das später aus“ sind die häufigsten Aus- reden, mit denen Analphabeten mehr oder weniger gut durchs Leben kommen. Allerdings ist auch ein anderes Ergebnis der zahlreichen internationalen Studien ein- deutig: Menschen mit einem niedrigen Litera- litätsniveau sind selten Mitglieder in Vereinen und Gemeinschaften und gehen eher nicht zu Wahlen – auch wieder aus Angst vor Entde- ckung und Bloßstellung. Mit der Aussage: „Ich nehme am Leben nicht mehr teil“, bringt es ein Betroffener auf den Punkt. Die Bereitschaft, die Situation zu ändern, ist offenbar gering. Nur etwa 0,3% der funk- tionalen Analphabeten nehmen an Alphabeti- sierungskursen, wie sie z. B. durch Volks- hochschulen kostenlos angeboten werden, teil.

Berufsleben starten. Ausnahmen sind eben diese Schülerinnen und Schüler, die sich ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten bis zur Mittleren Reife oder durch das Abitur „mogeln“. Besonders gefährdet, Analphabeten zu werden, sind gerade Kinder von Eltern mit einem niedrigen Bildungslevel. In diesen Fa- milien wird eher Wert auf ein schnelles Ver- lassen der Schule und das Geldverdienen ge- legt als auf ein höheres Bildungsniveau. Eine der Ursachen ist hier sicherlich in den fehlen- den finanziellen Ressourcen zu suchen, die der nächsten Generation eine umfassendere Schulbildung ermöglichen oder zumindest er- leichtern könnte. Der Mensch ist visuell orientiert. Aus Bil- dern Schlüsse zu ziehen und Handlungswei- sen abzuleiten, ist ein Urinstinkt, eine Grund- kompetenz des Menschen. Das hat ihm das Überleben gesichert. Schreiben und Lesen sind keine Instinkte, sondern erlernbare Kompetenzen. Daher wird in der Werbung auch in erster Linie mit Bildern gearbeitet, die Reize auslösen oder zu einer bestimmten Handlungsweise führen sollen. Eine reine textbasierte Werbung setzt zunächst ein Er- fassen und Verstehen der Textinhalte voraus, bevor es zu einer Handlung kommen kann. Soviel Zeit hat Werbung nicht, und soviel Zeit wird Werbung üblicherweise auch nur selten gewidmet. Der technische Fortschritt macht es An- alphabeten übrigens immer leichter, ihre Ein- schränkungen zu verbergen. Das moderne Smartphone mit Spracherkennung macht die Fähigkeit, Schreiben zu können ebenso über- flüssig wie das Navigationssystem, das mit seiner Sprachausgabe das klassische Karten- material verdrängt hat.

Während Legasthenie sowohl eine genetische Disposition haben, als auch auf bestimmte Fehlfunktio- nen des Gehirns zurückzuführen sein kann, ist Analphabetismus nicht ver- erbbar. Allerdings muss hier gleich eine Ein- schränkung gemacht werden: Analphabetis- mus ist zwar nicht genetisch, wohl aber sozial „vererbbar“. Darin sind sich Experten einig und dies wird auch in verschiedenen interna- tionalen Studien übereinstimmend belegt: So kommen eine niederländische und eine britische Studie zu den Schlussfolgerun- gen, dass Kinder aus armen Familien eher Entwicklungsverzögerungen und gesundheit- liche Beeinträchtigungen vorweisen. In der niederländischen Studie („Stil vermogen“) zeigt sich ein direkter Zusammenhang zwi- schen hoher schriftsprachlicher Kompetenz und einem besseren Gesundheitsstatus. Auch das Gespräch mit einer Lehrkraft an einer staatlichen bayerischen Förderschule bestätigt diese These: Die meisten Kinder mit einem niedrigen bis sehr niedrigen Niveau in der Literalität – gleichzusetzen mit den Al- pha-Gruppen 1 bis 3 – haben erhebliche fein- motorische Einschränkungen. Dies kann sich z. B. bei Alltagstätigkeiten wie beim Schuhe- binden zeigen – aber auch beim Schreiben. Fehlt die feinmotorische Fähigkeit, einen Stift zu führen, verlieren die Kinder aufgrund ihrer Misserfolge die Lust am Schreibenler- nen. Und wer die Lust am Schreiben verliert, der verliert auch die Lust am Lesen – und umgekehrt. Diesen Schülerinnen und Schü- lern ist der Weg in die berufliche Zukunft bereits vorgezeichnet, weiß die Lehrkraft zu berichten: Als ungelernte Arbeitskräfte für einfache Tätigkeiten werden sie wohl ins

Analphabe- tismus ist nicht biologisch „vererbbar“. Vielmehr sprechen Experten von einer „sozialen Vererbbar- keit“.

Made with