Blickpunkt Schule 1/2023

Bürger mit gefühltemWissen sind mit Worten leichter manipulierbar Die MINT-Dämmerung im deutschen Bildungswesen und ihre Folgen

Bologna und PISA als Wellenbrecher für das deutsche Bildungswesen Betrachtet man das deutsche Bil dungswesen über einen längeren Zeitraum, so hat es zweifellos eine Zä sur in den Jahren 1999 mit der Einfüh rung des Bologna-Prozesses in die deutschen Hochschulen als auch 2000 mit der ersten PISA-Studie für das Schulwesen gegeben. Die Einfüh rung eines modularen Studiums mit der Vergabe von Credit Points, der Be rechnung von Workloads verbunden mit dem ständigen Abprüfen teilweise nicht verstandener Inhalte in den ent sprechenden Modulabschlussprüfun gen brachte nicht nur den ein oder anderen Reformpädagogen ins Grü beln. Heute ist die Umstellung trotz aller Kritik weitgehend abgeschlos sen, wenn auch keines der hochge steckten Ziele erreicht wurde. Weder die angestrebte Senkung von Durch fall- und Abbrecherquoten, die Ver vielfachung von Auslandssemestern, die Verkürzung der Studienzeiten, die ’Entrümpelung’ von Inhalten in den Studiengängen noch die Vergabe ei nes ersten akademischen Abschlusses in Form des Bachelors – Letzterer ist in seiner Bewertung komplett ge scheitert – kann als Erfolg gebucht werden. Darüber täuschen auch die nunmehr kompetenzorientiert be schriebenen Module in den einzelnen Studiengängen nicht hinweg. Denn diese entsprechen dem üblichen »Blabla« der kompetenzorientierten Lehrpläne für Schulen, die dem deut schen Schulwesen im Rahmen von Bildungsstandards übergestülpt wur den. Den Schülerinnen und Schülern fehle es an Kompetenzen, so das Fazit der Bildungsexpertise von 2003. (1) Da der Kompetenzbegriff von jeher als

dass im Rahmen der Ökonomisierung den MINT-Fächern allein zur Erhal tung des Wohlstandes eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde. Schließlich haben die PISA-Studie von 2000 und auch vorhergehende TIMS Studien gezeigt, dass hier entspre chender Handlungsbedarf nötig sei. Infolge des nunmehr seit 2000 ge starteten Bildungsmonitorings – in Deutschland war die Vermessung von Bildungsergebnissen bis dahin weitge hend unbekannt und wurde auch hier der Kritik unterzogen (13, 14) – sollten engmaschige Überprüfungsszenarien an den Schulen gestartet werden, die in der Folge die festgestellte Mängella ge nachhaltig in bessere Ergebnisse umwandeln könne. Das hörten die teil weise nichts von der Materie verste henden Bildungsminister (vormals Kul tusminister) gerne und ließen in den letzten zwanzig Jahren ein Vielzahl von Studien durch die Schulen laufen, um im ’Bildungsranking’ – dem für Politi ker einzig interessanten Ergebnis – wieder die vorderen Plätze belegen zu können. Kritiker fragen seit zwanzig Jahren zu Recht nach den Ergebnissen dieser Vorgehensweise. Vom vielen Wiegen scheint die Sau nicht fetter zu werden. Ganz imGegenteil: Gerade die aktuelle Grundschulstudie von 2021 zeigt im internen Vergleich der Studien von 2010 und 2015 eine starke Be schleunigung des negativenTrends seit 2015 an. Davon sind als Abnehmer der Absolventen natürlich alle Schulfor men nachhaltig betroffen. Eine aktuel le Studie des Neuseeländers John Hat tie weist zwar darauf hin, dass es welt weit zu einer Leistungsminderung vor nehmlich durch Corona gekommen sei. (15) Allein dies erklärt nicht den in Deutschland schon seit 2015 zu beob achtenden dramatischen Absturz. Jetzt kann man die Frage stellen,

eher diffus empfunden und durchaus unterschiedlich interpretiert wurde, hat man sich auf den Kompetenzbe griff nach Weinert geeinigt (2) , der in seinen Kernaussagen ganz allgemein formuliert das Wollen, Können und die Anwendungsbezogenheit thema tisiert. Der Aufstieg und Fall der MINT-Fächer Viele Erziehungswissenschaftler und Kritiker aus nahezu allen Bildungsbe reichen brachte allein die hinter diesen Konzepten stehende ’Ökonomisierung der Bildung’ auf die Palme. (3-5) Nicht wenige sprachen von ’Ware Bildung’. (6) Die besonders bis dahin für das Bil dungssystem im deutschsprachigen Raum stehende Allgemeinbildung im Sinne eines Wilhelm von Humboldt sei mit den neuen Konzepten zu Grabe getragen worden. Deutsche Politiker äußerten sich dahingehend, dass Humboldt schon lange tot sei. Nicht wenige Wissenschaftler selbst im ang loamerikanischen Raum hielten diese Entwicklung von Anfang an für Deutschland desaströs (7) . Dahinter steckte die von der OECD schon lange vorgetragene Kritik am Bildungswesen im deutschsprachigen Raum, es sei mit dem angloamerikanischen sowohl von den Inhalten als auch von den Ab schlüssen her nicht kompatibel. (8) Das duale Bildungswesen sei einzigartig in der Welt, völlig veraltet und würde Deutschland in den kommenden Jah ren auch ökonomisch gegenüber den allseits in anderen Ländern erhöhten Akademikerzahlen ins Verderben füh ren. Auch die in den Bildungsstandards festgeschriebene Kompetenzorientie rung traf auf weitgehende Kritik. (9-12) Ohne auf diese Prozesse weiter ein zugehen ist es mehr als offensichtlich,

MINT – Ideal und Wirklichkeit

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SCHULE

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