Cellitinnen 1_2017

Kultur | Freizeit

Vorwurf. Jurij Fjodorovitsch Staro- vatych, der frühere Bürgermeister von Wolgograd, der zusammen mit dem Kölner Oberbürgermeis- ter Norbert Burger die Städtepart- nerschaft besiegelt hatte, spricht angesichts der aktuell gespannten Beziehungen in der Politik von der Aufgabe der ‚Diplomatie des Vol- kes‘; selber herauszufinden, was an guten Beziehungen zwischen Russen und Deutschen möglich ist. Unsere Begegnung mit seinem Nachfolger imRathaus der Stadt ist wichtig. Das russische Fernsehen nimmt das Gespräch in voller Länge auf und interviewt uns ob unserer Eindrücke. Wir erzählen von der beispiellosen Gastfreundschaft der russischen Gastgeber. Überall wur- de uns mehr als reichlich aus der köstlichen russischen Küche auf- getischt und eingeschenkt, mit oder ohne Dolmetscher Stunden lang erzählt, gefragt, gelacht, getanzt und geweint. Ein Besuch auf dem deutsch-russi- schen Soldatenfriedhof Rossosch- ka mit offizieller Kranzniederlegung stimmt nachdenklich – dass die Menschheit aus dem Wunsch ‚Nie wieder Krieg!‘ so wenig gelernt hat. Syrien scheint dem ehema- ligen Stalingrad so nah. Der VdK Verein Deutscher Kriegsgräberfür- sorge vermittelt uns in seinem Begegnungszentrum, dass für Tausende von Menschen die Grä- berfelder wichtig sind, weil sie nach vermissten Angehörigen suchen. Russischer Alltag: Im gesamten Bezirk Rossoschka ist per Dekret für drei Tage der Strom abgestellt. Dennoch verköstigen uns die Mit- arbeiter des VDK mit heißer Suppe

wusstsein gefeiert, sie nicht lebend wiederzusehen.

sich das heutige Wolgograd als schmucke Industriestadt. Einzig die alte Getreidemühle am Wolga- Ufer wurde als Mahnmal so zer- bombt belassen. Das Panorama- Museum direkt daneben bündelt als Erinnerungsstätte die Schlacht von Stalingrad: gemalt, nachgestellt und mit unzähligen Dokumenten, Uniformen und militärischen Aus- stellungsstücken illustriert. Mir ist die Welt der militärischen Strate- gien, der Macht und Gewalt, der

Wir fahren mit der uralten Trambahn zumMamajew-Hügel. Der höchste Punkt Wolgograds war den Sol- daten beider Truppen strategisch wichtig. Heute ist der Hügel ein stil- ler Park: In Meter hohe Wände ge- hauen, zeugen steinerne Bildnisse vom Leid der russischen Bevölke- rung. Neben der Monumentalstatue der ‚Mutter Heimat‘ mahnt eine Ge-

denkstätte an die Kriegstoten. Es berührt viele von uns sehr, dass just dort die ‚Träumerei‘ des deutschen Komponisten Robert Schumann in Dauerschleife gespielt wird; auf dass der Traum vom Frieden die Kriege überwinden möge. In den Jahren des Kampfes, als die Wolga brannte, wurden 99 Prozent der Stadt bis auf die Grundmauern zerstört. Stalin hatte befohlen, die Stadt an gleicher Stelle wieder aufzubauen, und so präsentiert

Uniformen und Waffen fremd. Und nach dem dritten Vortrag der russischen Dolmetscher über die Heldentaten der russischen Armee war vielen von uns nicht mehr nach Kriegsthemen. Für die russische Bevölkerung, insbesondere für die Älteren, sind sie Teil einer Leidens- geschichte und Heldensaga zu- gleich. Uns Deutsche beunruhigt das latente Bewusstsein, den Krieg angefangen zu haben und Nach- kommen des Feindes zu sein. Indes, niemand macht uns diesen

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