Blickpunkt Schule 1/2024

sichts dieser Situation gerne von ei nem Komplettversagen unseres Schulsystems gesprochen. Das ist so wohlfeil wie falsch. Wir haben in den letzten 10 Jahren seit 2014 rund eine Million Kinder (erste Zuwanderungs generation) zusätzlich an unseren Schulen aufgenommen, die meisten davon aus Familien mit einem niedri gen Sozialstatus und nicht nur ohne ausreichende, sondern überhaupt oh ne deutsche Sprachkenntnisse. Es gibt kein Schulsystem der Welt, das eine solche Herausforderung mit Bordmit teln bewältigen könnte! Möglichkeiten für Hilfe Trotzdem stellt sich natürlich die Fra ge, wie unter solchen Umständen die sen Kindern geholfen werden kann. Es ist eine gesellschaftliche Schicksals frage, ob und wie Integration in Deustchland gelingen kann. Die em pirische Schulforschung hat auch im Rahmen von PISA 2022 wieder ver sucht, den Leistungsrückstand von Kindern mit Migrationshintergrund »zu erklären«. Fünfzig Prozent davon sind der sozialen Herkunft geschul det, die anderen fünfzig Prozent kön nen durch andere Faktoren wie Bil dungsinteresse der Eltern und insbe sondere die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse erklärt werden. Da lässt eine weitere Zahl aus einer PISA Begleituntersuchung aufhorchen: Der Anteil von Familien mit Zuwande rungsgeschichte der 1. Generation, bei denen zu Hause überwiegend nicht Deutsch gesprochen wird, ist seit der letzten Studie von vierzig auf über sechzig Prozent angewachsen. Vor ein paar Jahren hat zwar das Berliner Kinderrocktrio Raketen-Erna

»reiche Eltern für alle gefordert«, aber das wird vermutlich Utopie blei ben. Der Schlüsselfrage lautet dem nach: Wie können wir erreichen, dass alle Kinder, die eingeschult werden, über so viel Deutschkenntnisse verfü gen, dass sie ab der ersten Klasse dem Unterricht problemlos folgen können? (Das betrifft übrigens nicht nur Flüchtlingskinder, Spracharmut findet sich zunehmend auch bei hier geborenen Schülern.) Vorschulische Sprachförderung Der Eintritt in den Kindergarten stellt dabei den idealen Moment für den Beginn einer intensiven Sprachförde rung dar. Was zu tun ist, wissen wir ei gentlich schon seit vielen Jahren. Während der hessischen KMK-Präsi dentschaft 2019 wurden die zehn Grundsätze für den erfolgreichen Start der Bildungssprache Deutsch formuliert. Gute Ansätze gibt es zwar in vielen Ländern, Sprachstandstests, Sprachförderung in Kitas, Sprachför derklassen, aber viel zu oft laufen Projekte und Programme unkoordi niert nebeneinander her. Schon allein die Kompetenzüberschneidungen zwischen Schul- und Familienminis terien stehen der notwendigen Durchgängigkeit, Geschlossenheit, Kontinuität und Verbindlichkeit von Diagnosetools und Sprachförderpro grammen oft im Wege. Insbesondere brauchen wir mehr Verpflichtung und Verbindlichkeit, sowohl was die Teil nahme an Sprachstandstests als auch an Sprachfördermaßnahmen angeht. In einigen Bundesländern scheiterte dies vor allem am Ein spruch der grünen Koalitionspartner,

die in solcher Verpflichtung eine Dis kriminierung von Migrantinnen und Migranten sahen. Das ist natürlich Unsinn, es geht nicht um Diskriminie rung, es geht um proaktive Hilfe und Unterstützung, es geht um die Siche rung und Eröffnung von Lebens- und Zukunftschancen. Es gibt zumindest ein Bundesland, das hier Vorbild für andere sein kann: Hamburg. Ham burg hat auch bewiesen, dass man sich nicht bei dieser Frage hinter dem herrschenden Personalmangel ver stecken muss. Wer rechtzeitig ent sprechende Ausbildungskapazitäten für Sprachförderung schafft und Fortbildungsprogramme für Lehr- und Kitakräfte auflegt, kann trotz des Fachkräftemangels schon jetzt Ak zente setzen. Förderung der Bildungs sprache Deutsch Neben der vorschulischen Sprachför derung stehen wir auch vor der He rausforderung, im schulischen Unter richt selbst die Bildungssprache Deutsch zu fördern. Das ist übrigens eine Aufgabe alle Fächer, nicht nur des Faches Deutsch. Die Aufstockung der Deutschstunden an den Grund schulen in Hessen war eine richtige politische Entscheidung. Mehr Kon zentration auf Kernkompetenzen, we niger Schnickschnack – das ist das Gebot der Stunde. Ich könnte mir auch vorstellen, im Primarbereich je nach Bedarf vor Ort Englisch- in Deutschstunden umzuwidmen. An den weiterführenden Schulen startet die erste Fremdsprache sowieso wie der bei Null. Wir sollten uns wieder alle stärker bewusst machen, dass alle Bildungs prozesse sprachliche Kompetenzen voraussetzen. Wichtigstes Medium des Unterrichts ist und bleibt die Sprache. Sie hat darin eine kognitive und eine kommunikative Funktion. Und was im Unterricht wichtig ist, gilt auch für die Gesamtgesellschaft. Sich an den anderen in einer Sprache zu wenden, die dieser versteht, ist letzt endlich die Grundbedingung der Mög lichkeit von Gerechtigkeit.

Titelthema

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SCHULE

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