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Im Wandel der Zeit Wie unsere Vorfahren alt wurden

zumal in den Städten. Die ältere Ge- neration, sofern sie das ‚gesegnete‘ Alter erreichte, versuchte, so lange wie möglich im eigenen Haushalt zu leben. Sie konnte sich auch nicht auf die Unterstützung ihrer Kinder verlassen, weil diese selbst arm, vor ihnen gestorben oder längst aus der Stadt oder dem Dorf weg- gezogen waren. Altersarmut und – einsamkeit sind keine neuzeitlichen Probleme. Abhängig zu sein von der Familie war nie eine gute Op- tion für die Generation 65plus. Ge- sundheit, finanzielle Sicherheit und Eigenständigkeit waren und sind die Themen des Alters. Gemeinhin erwarteten die europäi- schen Gesellschaften des Mittel- alters und der Renaissance von ihrer älteren Generation, dass sie ihre Gebrechen klaglos erdulde- te, ihren Frieden mit Gott mach- te und möglichst zurückgezogen lebte. Die Menschen reduzierten das Alter auf die Gebrechen. Der verwelkende Körper stand in der Kunst für Vergänglichkeit, sinnlose Eitelkeiten und die Sünde. In der Renaissance, in der die Schönheit zum Ideal erhoben wurde, war für die zweite Hälfte des Lebens be- sonders wenig Platz. Wer es sich leisten konnte, versuchte die Falten hinter Schmuck und Schminke zu verstecken – und erntete für das Bemühen nicht selten Hohn und Spott. Erwartungen

Vom Mittelalter bis ins 17. Jahr- hundert hinein lebten in den euro- päischen Gesellschaften rund acht bis zehn Prozent über Sechzigjähri- ge. Die in den Geschichtsbüchern angegebene durchschnittliche Le- benserwartung von maximal 35 Jahren für jene Zeit – die Statis- tiken schwanken je nach Quellen- grundlage – ist irreführend, denn sie beinhaltet die damals hohe Kindersterblichkeit. Schätzungen zufolge starben rund 50 Prozent der Menschen vor Erreichen der Puber- tät. Wer diese Zeit überlebte, hatte durchaus Chancen, je nach gesell- schaftlichem Stand, das sechzigste Lebensjahr oder mehr zu erreichen. Zwar prägte auch im Mittelalter die Erscheinung das Alter und nicht die erreichten Lebensjahre, doch im Allgemeinen galten Männer mit spätestens 60 Jahren als alt, Frau-

en mit Erreichen der Menopause. Aber das war für unsere Vorfahren noch lange kein Grund, sich zur Ruhe zu setzen. In der Regel arbei- teten sie, egal welcher Schicht und welchem Beruf sie angehörten, so lange wie möglich – die meisten hätten auch keine andere Wahl gehabt. Verlierer der Gesellschaft waren arme Lohnabhängige, be- sonders alleinstehende alte Frauen. Sie hatten nichts ‚auf der hohen Kante‘ und mussten widrigenfalls betteln gehen. Bessergestellte wie Kaufleute, Handwerker und Notare sorgten für ihr Alter vor.

Alter als ‚Restzeit‘

Das romantische Bild der Groß- familie, in der die Jungen für die Alten sorgten, war in Nord- und Mitteleuropa eher die Ausnahme,

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