Blickpunkt Schule 2/2022

Braucht die Bildungssprache einen schulischen Literaturkanon? Z u den entscheidenden Faktoren einer Schullaufbahn gehört im deutschen Bildungssystemdas bieten doch gerade Klassiker einen Reichtuman ambivalenten Figuren und Wer Denken lernenmöchte, muss eine Sprache erlernen, die dies erst er-

zeitlosenThematiken, die eineVer- knüpfungmit der Lebenswelt der Ju- gendlichen ermöglichen. Geschieht ei- ne Begegnungmit sprachlich und in- haltlich anspruchsvollerenWerken erstmals in höheren Klassen oder gar in der Oberstufe, führt dies zu einer Über- forderung der Schüler und einer ’Ent- koppelung der Oberstufe’ vomAn- spruch der Mittelstufe. Wie auch imFall des Fehlerindex sollten die Schüler möglichst früh an ein gymnasiales Niveau herangeführt werden. Betrachtet man den aktuellen Kanon der Oberstufe, findet man dort bei- spielsweise keinWerk Bertolt Brechts. Ob ein Schüler in seiner Schulzeit mit bedeutenden Literaten der deutschen Geschichte in Berührung kommt, hängt also von den literarischenVorlieben der Deutschlehrkraft ab. Zu begrüßen ist die Initiative des Kultusministeriums, in jeder Jahrgangsstufe der Sekundarstu- fe I eine Ganzschrift zu verankern, ge- hört die Beschäftigungmit literarischen Werken doch längst nicht mehr (grund- sätzlich) zur Lebenswelt (junger) Gym- nasiasten. Wo früher imSchulbus oder an der Haltestelle zumBuch gegriffen wurde, wird heute das Smartphone ge- zückt. Momente, in denenman früher las oder einfach nur mit offenen Augen träumte, fehlen heute außerhalb der Schule. Eine Ausnahme bilden Kinder, denen vomElternhaus strengere Res- triktionen bezüglich der Mediennut- zung auferlegt wurden bzw. denen die Freude am Lesen schon früh vermittelt wurde. Durch die ständigeVerfügbar- keit vonmultimodalenTextstrukturen bzw. Texten, die sich aus Videos, Musik, Text und Bildern zusammensetzen, ist bei vielen Jugendlichen die Imaginati- onskompetenz nur noch rudimentär ausgebildet. Zu einemgeschriebenen Text ohne Bilder selbst eine ’innere In- szenierung’ herzustellen, wird so au- ßerhalb der Schule in der Regel nicht geübt.

möglicht. Die Sprache unseres Be- wusstseins, der Organisation unseres Wissens, ist komplex undmuss erlernt werden. In diesemZusammenhang ist die Bildungssprache ein hohes Gut, von demman in einer Demokratie niemand ausschließen darf, doch es ist ein Gut, das man nur durch Arbeit an undmit Texten erlernen kann. Die Bildungsspra- che Deutsch ist stellenweise komplex und benötigt daher geeignete sprachli- cheVorbilder. Diese stellen in erster Li- nieTexte dar, die keine simplen Antwor- ten geben, sondern zur Reflexion aufru- fen bzw. sich aufgrund ihrer Mehrdeu- tigkeit einer klaren und instrumentali- sierbaren Deutung entziehen und so eine Lektürepluralität ermöglichen. So ermöglicht das Lesen das Ken- nenlernen von literarischenWelten, die den Leser ein Leben lang begleiten. An- spruchsvolle Literatur umfasst die lite- rarischeVerhandlung von Leben, die Auseinandersetzungmit komplexen und widersprüchlichen psychischen Prozessen wie denen der Selbstfindung und ermöglicht die Identifikation und Empathie mit den Archetypenmensch- licher Erfahrung. Somit bildet sie die Grundlage von seelischen, intellektuel- len, ethischen und sprachlichen Fähig- keiten undWerkzeugen, die eine diffe- renzierte Durchdringung der Wirklich- keit erst ermöglichen. AlsTeilbereich der kulturellen Bildung sollte der Zu- gang zu ihr früh ermöglicht und der Umgangmit ihr erprobt werden, da im jungen Lesealter dieWeichen und sprachlichen Möglichkeiten angelegt werden. Mehr denn je brauchen die Kin- der heute eine inhaltliche Unterstüt- zung, besonders wenn ihnen der intel- lektuelle Austausch zuhause oder in der Peergroup nicht möglich ist. Nicht nur Schüler wählen gerne den Weg der geringsten Anstrengung. Es ist also ganz natürlich, dass sichWider- stand gegen schwierigeTexte seitens der Schülerschaft regt. Selbst wenn wir

Elternhaus, dies haben unterschiedli- che wissenschaftliche Studien überein- stimmend belegt. So kann es unter an- derem entscheidend sein, ob demKind im frühen Kindesalter vorgelesen wur- de. Vielen Kindern fehlt diese Erfah- rung, da ihnen weder Märchen noch klassische Kinderbücher vorgelesen wurden. So wird schon früh die Chance vergeben, Kindern eine natürliche Be- ziehung zur (Kinder-)Literatur zu ver- mitteln und diese als natürlichenTeil ihres Lebens begreifen zu lassen. Die- ses Defizit wird dadurch verstärkt, dass dann in der Sekundarstufe I wenig for- dernde (Jugend-)Romane gelesen werden. So hat man das Gefühl, dass Sprachvermögen, die Lesebereitschaft und die Geduld, sich anspruchsvollen Texten zu stellen, beharrlich zu sinken scheinen. Leider ist in den letzten Jahren eine Tendenz an hessischen Gymnasien zu beobachten, klassische Lektüren in der Mittelstufe durch ’Jugendbücher’ zu ersetzen. Nun gibt es sicherlich zahlrei- che sprachlich und inhaltlich an- spruchsvolle Jugendbücher wie zum Beispiel ’Krabat’ von Otfried Preußler, die einemgymnasialen Niveau gerecht werden. Doch das trifft leider nicht auf alle in der Schule beliebtenTitel zu. So werden klassische Novellen wie zum Beispiel ’Romeo und Julia auf demDor- fe’ (Gottfried Keller) oder ’Die schwarze Spinne’ (Jeremias Gotthelf) in höhere Jahrgangsstufen verschoben. Las man diese früher in der 7., ist dies nun teil- weise erst in der 9. Klasse der Fall. Be- gründet wird dies unter anderemmit demArgument, dass manmit Jugend- büchern zunächst die ’Lesefreude’ der jungen Leser wecken wolle. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht gerade die Aufga- be einer didaktisch versierten Lehrkraft sein sollte, an komplexeren Lektüren interessante Aspekte offenzulegen. So

Sprache – Bildung – Denken

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SCHULE

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