Blickpunkt Schule 2/2022

Wie lassen sich die zunehmenden bildungssprachlichen Mängel der Schülerschaft erklären?

für sensibilisiert werden, dass jegli- chem Schreibprozess ein Korrektur- prozess innewohnt, der explizit einge- übt und verbessert werden muss. Dies geschieht vor allem durch das intensive Arbeiten mit Referenztexten und Überarbeitungsschleifen, was re- gelmäßig trainiert werden sollte. Ebenso wichtig ist, dass die Schüler über ihr eigenes Schreiben eine Sensi- bilität für die Sprache der Texte entwi- ckeln, die ihnen bei einem rein analy- tischen Zugang wahrscheinlich nicht möglich sind. Gerade für leistungsschwächere Schüler ist es wichtig zu verinnerli- chen, dass das Schreiben bis zu einem hohen Grad durch ein systematisches Überarbeiten der eigenen Texte er- lernbar ist. Dieses hängt jedoch auch mit der Lesekompetenz zusammen, sodass das kontinuierliche Lesen von (anspruchsvoller) Literatur unabding- bar ist. Besonders der Stil wird sich durch die Lektüre (moderner) klassi- scher Autoren verbessern, ebenso wie die Fähigkeit, zu einem tiefergehenden Verständnis von inneren Prozessen und intrapsychischen Themen. Der Ansatz der Landesregierung, das ver- bindliche Behandeln einer Ganzschrift in jeder Jahrgangsstufe, bildet einen begrüßenswerten Hebel für die Förde- rung bildungssprachlicher Kompeten- zen, der allerdings von den Lehrkräf- ten mit Methoden einer zeitgemäßen Lese- und Schreibdidaktik sowie eines sprachsensiblen Fachunterrichts auch unterstützt werden sollte.

mit einem Sprachgebrauch, der stark an der Alltagssprache angelehnt ist. Hinzu kommt, dass die Kommunikati- on ’multimodal’ stattfindet. Neben demText wird mit Fotos, Videos, Mu- sik, Geräuschen, Sprachaufnahmen oder zumindest mit Emoticons kom- muniziert. Diese kompensieren zu- sätzlich das Fehlen bildungssprachli- cher/konzeptionell schriftsprachli- cher Ausdrucksmuster. Insbesondere in Zeiten des ersten Lockdowns war festzustellen, dass ei- nige Schüler damit überfordert waren, eine Mail mit Anrede und Grußformel zu verfassen. Auch als Rezipienten/ Konsumenten von Texten begegnen ihnen überwiegend multimodale und konzeptionell mündliche Formen. In- formationen erhalten Schüler über ’TikTok’, ’YouTube’ und ’Instagram’. Andere (konzeptionell schriftliche) Nachrichtenmedien wie Tageszeitun- gen oder die Tagesschau haben si- cherlich auch schon in den vergange- nen Jahrzehnten im Leben der Schü- ler keine tragende Rolle gespielt, sind für die aktuelle Schülergeneration al- lerdings endgültig obsolet geworden. Auch wenn es auf YouTube mittlerwei- le eine nicht geringe Zahl an konzep- tionell schriftsprachlichen Angeboten gibt (die ’Tagesschau’ kann zum Bei- spiel auch auf YouTube abgerufen werden), werden diese von Jugendli- chen nicht unbedingt präferiert. Für den Bildungserfolg ist maßgeb- lich, ob die Eltern den Medienkonsum ihrer Kinder kontrollieren und diese zu einem Umgang mit konzeptionell schriftsprachlichen Formen vom frü- hen Kindesalter an motivieren. Dies beginnt mit demVorlesen von Mär- chen und dem Hören von Hörspielen und mündet später bei der Rezeption von Radiosendungen, Tageszeitungen sowie von Romanen bzw. anderen lite- rarischen Werken. Allerdings können bildungssprachli- che Defizite nicht allein vom Fach

von Sebastian Krämer D ie Beobachtung, dass sich die Schülerinnen und Schüler zu- nehmend mit demVerfassen von Fließtexten (auch am Gymnasi- um) schwertun, darf nicht mit einem grundsätzlichen Bildungsskeptizismus verwechselt werden. Der häufig von Schülerseite geäußerte Wunsch, Auf- gaben in Stichworten verfassen zu dürfen oder andere Formen von ’Ver- meidungsverhalten’ scheinen in den letzten Jahren zugenommen zu ha- ben. Zudem werden umgangssprach- liche Formulierungen und unvollstän- dige Sätze von den Schülern nicht mehr als fehlerhaft wahrgenommen. Häufig hört man bei der Besprechung der Klassenarbeiten den Satz: »Was ist denn daran falsch? Das sagt man doch so!«. Diese Probleme lassen sich unabhängig von der Herkunftsspra- che der Eltern feststellen. Wie lassen sie sich allerdings erklären? Das Fundament der ’Bildungsspra- che Deutsch’ bilden die Merkmale der sogenannten »konzeptionellen Schriftlichkeit« (Koch/Oesterreicher 1985). Vergleicht man einen familiä- ren WhatsApp-Chat (konzeptionell mündlich) zum Beispiel mit einem Leitartikel oder Gesetzestext (kon- zeptionell schriftlich) werden die Un- terschiede im Bereich konzeptioneller Mündlichkeit (eher nähesprachlich) und konzeptioneller Schriftlichkeit (distanzsprachlich) deutlich. Eine vor- gelesene Presseerklärung wird zum Beispiel mündlich vorgetragen, ist aber konzeptionell schriftlich verfasst. Betrachtet man allerdings die Kom- munikationskultur der Schüler, fällt auf, dass diese sich stark im ’konzep- tionell mündlichen’ Bereich bewegt bzw. diametral von den oben genann- ten Kriterien konzeptueller Schrift- lichkeit unterscheidet. In sozialen Me- dien wie ’Instagram’, ’WhatsApp’ oder ’TikTok’ kommunizieren die Schüler

Sprache – Bildung – Denken

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1 Vgl. Schmoll 2 KCGO, Seite 21 3 Ebd.

Literatur

(KCGO) Hessisches Kultusministerium: Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe Deutsch, In: https://kultusministeri- um.hessen.de/sites/default/files/ media/kcgo-d.pdf [7. März 2022] Schmoll, Heike: Unsere Kinder verlernen das Schreiben. In: Frankfurter Allge- meine Zeitung vom 8. Juli 2014. In: https://www.faz.net/aktuell/politik/ inland/grundschulen-kuemmern- sich-kaum-um-rechtschreibung- 13032906.html [7. März 2022]

SCHULE

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