Blickpunkt Schule 2/2022

sens. Kinder, die noch mit fünf Jahren auf die Frage »Was ist eine Kanne?« antworten: »Zum Gießen!«, antwor- ten mit zehn Jahren: »Ein Gefäß!«, geben die Bedeutung also über die Zuordnung zu einem Obergriff an, der wieder einer Ordnung weiterer Ober- begriffe angehört. Das Bilden von semantischen Kategorien – und das sind Begriffe – ist schon in der All- tagssprache, aber besonders dann für die Sprache der Fächer und deren Be- griffsordnungen zentral. Sprache ist ein Kommunikations- mittel, aber sie ist auch ein Werkzeug des Denkens und Lernens. Das be- grifflich strukturierte Denken, wie es die Schule fordert, ist Ergebnis eines Lernprozesses, der das Denken zu- nehmend aus der unmittelbaren An- schauung und der situativen Bindung an Handlungen löst und Schritt für Schritt in begrifflich systematische Zusammenhänge einbindet. Die Ent- wicklungspsychologin Magret Do- naldson (1978/1991) hat dies »disem- bedded thinking« genannt. Die Be- griffsbildung ist ein großenteils sprachlicher Lernprozess, der durch das schulische Lernen befördert wird. Das zeigt die Grafik in Abbildung 1 aus einem berühmten frühen Experiment von Jerome Bruner und Patricia M. Greenfield (1966/1971). Sie unter- suchten, wie Kinder und Schüler un-

terschiedlichen Alters Wortbedeutun- gen umschreiben. Dabei unterschie- den sie zwischen Antworten der Pro- banden, die auf die situative Hand- lungsbindung Bezug nahmen (zum Beispiel Zum Gießen, => Kurve ’Kom- plexe’) von solchen, die auf die Stel- lung in einem Begriffssystem Bezug nahmen und sie dort verankerten (zum Beispiel Ein Gefäß, => Kurve ’Obergriffe’). Die Grafik zeigt: Es ist das Alter zwi- schen sechs und achtzehn Jahren, die Zeit der schulischen Sprachverwen- dung, in der das Wissen in allen Fä- chern zunehmend systematisch und begrifflich geordnet wird. Sie zeigt zweitens: Sprache ist nicht nur Zei- chen für etwas in der Welt, sondern Mittel und Form der Organisation des Wissens. Das hängt eng mit dem Erwerb der geschriebenen Sprache zusammen. Die Schule ist das »gesellschaftliche ’Sprachlabor’ der Schriftlichkeit« und der damit verbundenen Sprachkom- petenzen, heißt es in dem oben zitier- ten Akademiebericht (Deutsche Aka- demie 2021, S. 24). Der Zusammen- hang mit der Schriftlichkeit betrifft ein zentrales Merkmal der Bildungs- sprache. Entscheidend ist dabei nicht die Schriftlichkeit an sich, sondern die Praxis der damit – auch schulisch – verbundenen Formen des Sprachge-

brauchs (Scribner/Cole 1978) und des Denkens. Schrift wurde erfunden, um Information speichern zu können und um Distanzkommunikation zu ermög- lichen. Dazu kommt, dass die Schrift Sprache vergegenständlicht, dass sie Sprache selbst zum Gegenstand möglicher Betrachtung und Untersu- chung, bewusster Variation und Ver- besserung macht. Wer schreibt, kann über räumliche und auch zeitliche Grenzen hinweg kommunizieren. Deshalb ist der Whatsapp-Chat gerade nicht die ty- pische Form des Schriftgebrauchs. Und deshalb geht es auch in der Schule vor allem darum, Sprachkom- petenzen zu fördern, die es ermögli- chen, komplexe Sachverhalte auch jemandem verständlich zu machen, der sich in einer ganz anderen Situa- tion befindet. Dafür müssen Texte nicht nur grammatisch und orthogra- fisch funktional, sondern vor allem weitgehend kontextunabhängig ver- ständlich sein. Diese Fähigkeit zur Si- tuationsentbindung wird im Erwerb geschriebener Sprache aufgebaut. Dies spiegelt sich – wie oben zu se- hen – auch in der Kognition und Be- griffsbildung. Die dafür gebrauchten sprachlichen Fähigkeiten werden in der Fachdiskussion zur Bildungsspra- che mit dem Begriff der konzeptio- nellen Schriftlichkeit gefasst; »kon- zeptionell« deshalb, weil die entspre- chenden sprachlichen Kompetenzen nicht auf das Medium der Schrift be- schränkt sind, sondern konzeptionell etwa auch beim Präsentieren oder für einen mündlichen Vortrag gebraucht werden, überall dort also, wo Sach- verhalte distanziert, objektivierend und nachvollziehbar darzustellen sind. Gelernt wird dies aber vor allem im Schriftgebrauch, das heißt, im le- senden und schreibenden Umgang mit Texten. Dies führt auch zur Aus- bildung eines Wortschatzes, der das schriftliche Sprachhandeln selbst be- schreibt: gliedern, definieren, zusam- menfassen, wiedergeben, erörtern, kommentieren etc. Alle diese Verben bezeichnen textgebundene Tätigkei- ten, und es sind diese Handlungszu- sammenhänge, für die die Bildungs-

Sprache – Bildung – Denken

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Abbildung 1: Veränderung der Struktur von Bedeutungserklärungen während der Schulzeit aus: Bruner/Greenfield 1966/1971, S. 106

SCHULE

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