Blickpunkt Schule 5/2020

Zeitschrift des Hessischen Philologenverbandes

Zeitschrift des Hessischen Philologenverbandes

Ausgabe 5/2020 · D 30462

SCHULE

Digitales Lernen

Bild: oleg_chumakov/AdobeStock

Hessischer Philologenverband

Liebe Leserin, lieber Leser,

denen, die mit Ihren Beiträgen diese Ausgabe von Blickpunkt Schule er- möglicht haben. Besonderer Dank gilt dabei auch Dr. Iris Schröder-Maiwald, die unermüdlich und vor allem erfolg- reich Personen anspricht, die Blick- punkt Schule inhaltlich bereichern. In diesem Sinne • beteiligen Sie sich rege an den Dis- kussionen innerhalb des Verbandes, • lassen Sie uns als Redaktion und die anderen Mitglieder an Ihrer Meinung teilhaben, • bleiben Sie dabei gelassen und vor allen Dingen gesund.

hphv, die am nächsten Vertretertag zur Abstimmung stehen. Wir sind ge- spannt auf Ihre Rückmeldungen und würden uns sehr freuen, wenn Sie die- se Anträge intensiv mit Ihren Schul- vertrauenspersonen und Ihren Kreis- und Bezirksvorsitzenden diskutieren würden. Nur dann können Sie sich einbringen und es wird sich ein trans- parentes Meinungsbild ergeben. Noch einen Punkt möchte ich anspre- chen: Zum dritten Mal in Folge habe ich die Bezirksvorsitzenden und die Vorsitzenden der Ausschüsse um Bei- träge für Blickpunkt Schule zu aktuel- len Themen gebeten. Die Resonanz ist äußerst mäßig. Umso mehr danke ich

von CHRISTOF GANSS

2 In eigener Sache Inhalt

es ist geschafft, eine neue Ausgabe von Blickpunkt Schule liegt Ihnen vor. Gleich zwei neue Rubriken haben wir eingeführt: ’Zur Diskussion’ und ’Leserbriefe’. Wir wollen zukünftig angestrebte Änderungen, Weiterent- wicklungen und innerverbandliche Streitthemen zur Debatte stellen und hoffen natürlich auf vielfältige Rück- meldungen. Wir starten mit vier An- trägen zur Änderung der Satzung des

Ihr

Editorial » Corona diktiert den Arbeitsalltag ...............................................3 Leitartikel » Digitales Lernen...........................................................................4 Berichte aus der Praxis » MachtYoga! In der Pause, imUnterricht, auf demSchulhof ........9 » Digitales Klassenbuch – drei Jahre im Einsatz! .......................15 » Endlich Erträge erzielt – Pressearbeit vor Ort in Zeiten der Corona-Krise ......................17 Klartext » HKM-Bilanz nach acht Monaten Corona: Skandalös ..................................................................................21 » Corona und Schule ....................................................................21 Rechtstipps » Corona in aller Munde – auch bei den Gerichten ....................22 Senioren » Neue Broschüre des dbb Hessen zumVersorgungsrecht .........25 Personalratswahlen 2021 » Vorläufiger Terminfahrplan für die Personalratswahlen 2021 ...26 Zur Diskussion » Neue Rubrik: Zur Diskussion ......................................................28 Hauptpersonalrat » Nachrichten aus dem HPRLL ...................................................30 Leserbriefe » Geschlechtergerecht kommunizieren .......................................33 » Philologenverband – quo vadis? ..............................................33 Personalien » Geburtstage | Wir trauern um ..................................................34

» Leitartikel: Digitales Lernen

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» Klartext:

HKM-Bilanz nach acht Monaten Corona: Skandalös Corona und Schule 21

» Rechtstipps: Corona in

aller Munde – auch bei den Gerichten

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Corona diktiert den Arbeitsalltag I n diesen Tagen kommt einem Bertolt Brechts ’Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen von REINHARD SCHWAB Vorsitzender des Hessischen Philologenverbandes

Editorial

Bild: LIGHTFIELD STUDIOS/AdobeStock

Beides muss im Einklang stehen. Die einzelne Lehrkraft, um ihre und der Schüler Gesundheit besorgt, lebt der- zeit in einem inneren Konflikt und mit der psychischen Belastung, perma- nent einer Gefahrenlage ausgesetzt zu sein und den Arbeitsbedingungen unter ’Pandemie-Diktat’ gerecht werden zu müssen. Die Politik steht in der Verantwor- tung für angemessene Rahmenbedin- gungen, in diesen Zeiten heißt das – dem Abstandsgebot gemäß – ausge- dünnte Klassen sowie eine verlässli- che IT-Versorgung. Hier rächt sich ein- mal mehr, dass der Bildungsbereich finanziell und personell nie angemes- sen ausgestattet wurde. Der Pandemie zum Opfer fiel auch unsere diesjährige Vertreterver- sammlung , zweifellos das verband- liche Lebenselixier im Jahr. Die jüngs- te Entwicklung hat uns leider keine andere Wahl als die Absage gelassen. Wir planen eine Neuansetzung im Frühsommer 2021. Dort werden wir auch die Nachwahl eines Stellvertre- ters durchführen, nachdem Andreas Lotz aus persönlichen Gründen zu- rückgetreten ist. Ihm gilt mein herz- licher Dank für sein unermüdliches Engagement. Grundsätzlich stehen weitere geplante Veranstaltungen, etwa die Pädagogische Tagung in Fulda , unter demVorbehalt der Pandemielage. Denken Sie an Ihre Gesundheit, bleiben Sie zuversichtlich!

Planens’ in den Sinn. Wir üben uns im Lesen von Hygieneplänen und stim- men dem Autor insgeheim zu: »Ja, mach nur einen Plan!/Sei nur ein gro- ßes Licht!/Und mach dann noch ’nen zweiten Plan/Geh’n tun sie beide nicht.« Das Pandemiegeschehen mit seiner unberechenbaren Dynamik setzt den Schulen ebenso zu wie den Ämtern und der Kultusbürokratie. Entschei- dungen mit weitreichenden Folgen und ungewissem Ausgang müssen getroffen und verantwortet werden; immer wieder muss mit aktuellen An- passungen und neuen Plänen gerech- net werden. Wir erleben mit dem vierwöchigen Teil-Lockdown nun erneut einen mas- siven Eingriff in unser gesellschaftli- ches Leben mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft. Schulen bleiben zwar geöffnet, auf eine schnelle Normali- sierung dürfen wir aber nicht hoffen, so Experteneinschätzungen. Für uns Lehrkräfte ändert sich damit nachhal- tig der Arbeitsalltag. Zum Präsenz- unterricht kommen verstärkt Online- Arbeitsformen hinzu, insbesondere ’Quarantäneschüler’ müssen auf die- se Weise beschult werden. Unliebsa- me Eingriffe in das Schulleben müs- sen wir hinnehmen; organisatorische Besonderheiten – beispielsweise die vorgegebene Wegeführung in den Schulgebäuden sowie Lüftungs- und versetzte Pausenzeiten und das Tra- gen des Mund-Nasen-Schutzes –

binden unsere Aufmerksamkeit. Inte- ressante Arbeitsgemeinschaften, Ex- kursionen und mehrtägige Schul- und Austauschfahrten entfallen, für den Sport- und Musikunterricht gelten Ausnahmebedingungen und so fort. Die Maske ist zum unverzichtbaren Requisit geworden, mittlerweile auch im Unterricht. Viele unserer alltäglichen Arbeits- weisen sind eingeschränkt oder sogar ganz in Frage gestellt. Neben den un- terrichtlichen Inhalten müssen wir das Sozialverhalten der Kinder und Jugendlichen stärker in den Blick nehmen und sie auf die gemeinsame Verantwortung hinsichtlich der Pan- demiebekämpfung einschwören. Wir Lehrkräfte stehen an vorderer Front, wenn wir versuchen, trotz eigener möglicher Gefährdung dem Bil- dungsauftrag gerecht zu werden. Ei- nes dürfte klar sein: Umfassende Bil- dung der jungen Generation ist für eine gesicherte Zukunft mit und nach Corona unabdingbar. Der Schule kommt hier als Lern- und Lebens- raum der jungen Menschen eine Schlüsselrolle zu. Im Spannungsver- hältnis zwischen Bildungsanspruch und Gesundheitsschutz fällt dem hphv eine Positionierung nicht leicht.

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Mit kollegialen Grüßen Ihr Reinhard Schwab

Leitartikel

Digitales Lernen

I n Deutschland wird seit Längerem nach einer rasanten Digitalisierung in Produktion und Geschäftsprozessen gerufen. Das Thema fasziniert Politik wie Wirtschaft gleichermaßen. Von einer Revolution in fast allen gesell- schaftlichen Systemen ist die Rede. Und da kann es natür- lich nicht ausbleiben, dass auch der Bildungsbereich in das Visier der innovativen Technologen gerät. In der Bundes- republik wird gegenwärtig eine regelrechte Kampagne für einen digitalen Unterricht gefahren, verbunden mit einer übersteigerten Befürchtung, man würde den Anschluss an eine wichtige globale Entwicklung verpassen. Keine Konzepte für gelungenen Digitalunterricht Bei näherem Hinsehen vermittelt sich allerdings der Ein- druck, dass die Visionen von »neuen Lernwelten« durch Digitalisierung wenig konkret und die Umsetzungsvorstel- lungen sehr unscharf sind. Studien wie die von Bertels- mann schüren öffentliche Erwartungshaltungen, ohne die tatsächliche Leistungsfähigkeit eines digitalen Unterrichts genau zu klären. So wird begrüßt, dass ein Wille zum digi- talen Lernen nun endlich auch bei den Schulen angekom- men sei, weil inzwischen rund zwei Drittel aller Lehrer und Schulleiter der Auffassung seien, dass die digitalen Medien ihre Schule attraktiver machen. Schulen, so die Studie, nützen »das pädagogische Potenzial des digitalen Wan- dels noch nicht«, obwohl diese doch dabei helfen könnten, »pädagogische Herausforderungen wie Inklusion, Ganztag oder die Förderung lernschwacher Schüler zu bewältigen«. Obwohl, wie gesagt, noch ziemlich unklar ist, wie ein ge- lungener Digitalunterricht überhaupt auszusehen hat, durchdachte pädagogische Konzepte liegen jedenfalls noch nicht vor, erzeugt man auf diese Weise Resonanzen, die dann als Bestätigung der eigenen ungeprüften Anschauung interpretiert werden. Eine Rolle spielt dabei auf jeden Fall die auf einen Multi-Milliarden-Markt hoffende IT-Industrie,

die seit Jahren einen entsprechenden Druck auf die zustän- digen Ministerien in Bund und Ländern ausübt. So sind im Koalitionsvertrag der neuen Regierung fünf Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode für diesen Bereich vorgesehen. Smartphones an Schulen Viele der für eine Digitalisierung von Unterricht plädieren- den Stimmen werden vorsichtig, wenn es konkret werden soll. So kommt eine Studie der TU München zu der Ein- schätzung, dass der Lernerfolg der Schüler durchaus ver- bessert werden kann, wenn man es denn richtig macht. Ähnlich, mit leicht fatalistischer Grundierung, äußert sich die Psychologin Tina Seufert vom Institut für Lehr- und Lernforschung der Uni Ulm. Sie meint, dass der Einzug des Smartphones in den Unterricht kaum aufzuhalten sein wird, weshalb es »neuer Strategien« bedarf, ummit sol- chen Informationsgebern richtig umgehen zu können. Mit dem Hinweis auf den raschen Aufmerksamkeitsverfall in Lernsituationen verbindet sie die Hoffnung, dass mit dem Smartphone ’vielleicht’ der Unterricht leichter und kreati- ver gestaltet werden kann. Sie fordert »didaktische Zu- satzschulungen«, ein klarer Hinweis darauf, wie vage sich die ganze Sache mit der Digitalisierung noch darstellt. Dass der Einzug des Smartphones in die Schulen nicht schicksalhaft sein muss, zeigt sich gerade in Frankreich, wo ab dem Jahre 2018 das Mitbringen von Handys und Smartphones in die Schulen rigoros verboten wird, weil man erkannt hat, dass diese weniger Instrumente einer Wissensgesellschaft, sondern Apparaturen für »sozialen Klatsch« sind, die vom Unterricht nur ablenken. Zu dieser Meldung passt, dass die Lehrer in den USA mehrheitlich den Einsatz digitaler Techniken im Unterricht mit eben einer solchen Begründung ablehnen. Zwei große Aktionärsgruppen von Apple, darunter der kalifornische Lehrer-Pensionsfonds (CalSTRS), kritisieren die negativen Folgen eines ungebremsten Gebrauchs von Smartphones.

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Solche Szenen offenbaren auch, dass in der Schule kein Interesse für die digitale Welt mehr geweckt werden muss, sondern dass es vielmehr umgekehrt umWarnungen vor Suchtstrukturen geht. Der Behauptung, dass durch digitale Medien ein trocke- ner Schulstoff lebendiger und anschaulicher aufbereitet werden kann, weil er so mehrere Sinne anspricht und Wis- sen deshalb besser verankert werden kann, wird mit dem Argument der Gefahr einer Reizüberflutung begegnet. Der Lernvorgang bedarf der Ruhe und Konzentration auf eine klare Strukturierung, die durch ein »multimediales Feuer- werk« aufgelöst wird. »Vertieftes Lesen« Weitere Forschungen deuten darauf hin, dass das Lesen an Bildschirmen mit Nachteilen verbunden ist. Die Lin- guistin Naomi Baron behauptet, dass das Lesen gerade längerer Texte auf dem Bildschirm schwieriger ist als im Buch. Multimediale Lerninhalte verankern sich schlechter im Gedächtnis als gelesene Buchtexte. Kleinkinder blät- tern noch in Bilderbüchern. Je älter die Kinder jedoch werden, desto geringer wird der Anteil bildhafter Darstel- lungen. Bei reinen Textbüchern entwickelt sich Fantasie, weil Kinder anfangen, sich neue Welten vorzustellen. Es handelt sich dabei um einen Transfer von schwarzen Buchstaben in bunte Vorstellungswelten, wodurch denke- rische Fähigkeiten und imaginäres Vermögen entwickelt werden. Der Niederländer Adrian van der Weel von der Uni Leiden will herausgefunden haben, dass das Erinnerungsvermö- gen durch die physikalische Verortung des Gelesenen be- günstigt wird. So werden bestimmte Textpassagen mit ihrer Position in einem konkreten Buch verknüpft, weshalb wir diese dann vor unserem »geistigen Auge« haben. Wenn wir am Com- puter scrollen oder auf dem Gerät verschiedene Texte le- sen, bleibt eine solche Verortung aus. Die Kognitionspsychologin Rakefet Ackermann plädiert in einem Interview für ein »vertieftes Lesen«, weil sich aus einem solchen die größte Lerneffektivität ergibt. Anders als beim Hören eines Textes oder beim Betrachten eines Vi- deos, kann beim Lesen das Tempo mit dem die Information verarbeitet wird, kontrolliert werden. Beim vertieften Lesen können Menschen je nach ihrer Fähigkeit der Informations- aufnahme vor- und zurückgehen. Bei einemVideo oder ei- nem Hörtext ist das Informationstempo dagegen vorgege- ben. Auf jeden Fall ist es in beiden Fällen sehr aufwendig, durch Vor- und Rückspulprozesse zu überprüfen, ob man wirklich alles verstanden hat. Man kann zudem nicht noch einmal alles schnell überfliegen, um sich einen Begriff oder eine Abkürzung in Erinnerung zu rufen, wie dies beim Lesen möglich ist. Digitale Geräte, so die Wissenschaftlerin, ver- führen zu oberflächlichem Lesen. Aus diesem Grund ist von einer Unterlegenheit der Arbeit am Bildschirm bei Lern- und Problemlösungsversuchen, bei der Selbstein- >>

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Bild: BillionPhotos.com/AdobeStock

Drei Viertel der befragten Lehrer sagen, dass die Fähigkeit von Schülern, sich beim Lernen zu konzentrieren, beim Ein- satz digitaler Medien sinke. Eine Rolle spiele dabei, dass über diese der Kontakt zu den sozialen Netzwerken gehal- ten wird und sich dabei ein großes Suchtpotenzial mit ab- lenkender Wirkung entfaltet. Digitalisierung und soziales Lernen Den mehr pauschalen und wenig dezidierten Lobgesängen auf einen digitalen Unterricht stehen präzise Einwände ge- genüber. So äußert Gerald Lembke scharfe Kritik an der Bertelsmann-Studie, die die erkennbaren Nachteile des di- gitalen Lernens übersieht und die auch die sehr kritische Bewertung des Einsatzes digitaler Hilfsmittel durch die OECD aus dem Jahre 2015 einfach übergeht. Lembke ver- weist auf neurobiologische Einsichten derart, dass die Rei- fung des kindlichen Gehirns in den ersten Lebensjahren nur dann zu einer optimalen Entfaltung des kognitiven Po- tenzials führt, wenn diese ohne Störung erfolgt. Als eine solche könnte eine zu frühe Erfahrung mit virtuellen Wel- ten bewertet werden, weil eine starke Verwurzelung in der konkreten Realität Voraussetzung für eine natürliche Ent- wicklung ist. Im Sinne eines Passungsgedankens benötigt das Gehirn eine erwartete einfach strukturierte Welt. Tablets und Smartphones liefern eine solche nicht. Bestätigt wird die Gefahr einer Realitätsverzerrung durch digitale Medien von der Erziehungswissenschaftlerin The- resa Schilhab von der Universität Aarhus. Wenn Kleinkinder mit iPads unterhalten werden, wenden sie sich immer wei- ter von der gegenständlichen Welt ab und verlieren so den »physischen Anker« der unmittelbaren Erfahrung. Das multimediale Füllhorn verdrängt die reale Welt. Problema- tisch erscheint eine Digitalisierung auch hinsichtlich des sozialen Lernens. Dieses kann sich nur in direkter Kommu- nikation mit und Wahrnehmung von anderen Menschen abspielen. Störungen eines solchen Prozesses zeigen sich zunehmend im bereits digitalisierten Alltagsleben, wenn Jugendliche nicht mehr miteinander, sondern nur noch mit dem eigenen Smartphone kommunizieren.

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schätzung von Leistungen und der Effektivität im Umgang mit Zeit auszugehen. Der Vorgang des Lernens Was man im Zusammenhang mit den Erwartungen an ein digitales Lernen nur selten findet, ist eine genaue Be- schreibung des Lernvorganges selbst. Lernen ist die Kon- struktion von Bedeutung im Kopf des Lernenden. Und die- ser Vorgang ist entgegen in der Pädagogik weit verbreiteter Vorstellungen fast immer schwer und nicht leicht. Falsche Analogieschlüsse, bei denen biologische Ausreifungspro- zesse wie beim Laufenlernen oder beim Erwerb der Mutter- sprache mit kulturellem Lernen verwechselt werden, haben zur irrigen Auffassung von der Möglichkeit eines leichten, spielerischen Lernens beigetragen. Lernen ist ein seit Tausenden von Jahren unveränderter natürlicher biologischer Vorgang, weil sich der menschliche Hirnaufbau und die dazugehörige Hirnfunktion nach an- thropologischem Erkenntnisstand seit rund 20000 Jahren nicht mehr verändert haben. Und Lernen ist schwer, weil der Vorgang aus neurobiologischer Sicht so kompliziert ist. Das liegt vor allem daran, dass das für uns unbewusst agierende Stammhirn das Großhirn aktiviert und deakti- viert und dass dieses Großhirn vornehmlich durch Gefühle stimuliert wird. Lernen hat also sehr viel mit Gefühlen zu tun, auf die wir keinen unmittelbaren Einfluss nehmen können. Sitz der Ge- fühle ist das im Großhirn befindliche Limbische System. Es stellt das zentrale Bewertungssystem unseres Bewusstseins dar. Und weil schon der Wille zum Lernen zunächst nicht mehr als ein Gefühl ist, kann das Limbische System als das eigentliche Motivationszentrum des Menschen angesehen werden. Es prüft und bewertet alles, was durch uns und mit uns geschieht und zwar nach den Gesichtspunkten der Lustgewinnung und der Unlustvermeidung. Die dabei ge- machten Erfahrungen werden im emotionalen Gedächtnis gespeichert. Dieses überprüft zumeist unbewusst jede neue Situation auf ihre Bekanntheit und darauf, wie sie bewältigt wurde. Und auch diese Prüfung erfolgt nach dem Gesichts- punkt einer Kosten-Nutzen-Kalkulation im Sinne von loh- nend oder zu vernachlässigen. Kommt das System zu dem Schluss, dass sich eine lernende Beschäftigung mit der Sa- che lohnt, so werden über das »neuromodukatorische Sys- tem« die in der Großhirnrinde vorhandenenWissensnetz- werke so umgestaltet, dass neues Wissen entsteht. Der Vorgang des Lernens läuft also zumeist hochauto- matisiert und weitgehend unbewusst ab. Anders als im Bereich des intellektuellen Lernens voll- zieht sich das Lernen im sozialen Bereich eher blitzartig, weil das Individuum in diesem Kontext bereits über Erfah- rungen verfügt, auch wenn sie diese selber noch gar nicht gemacht hat. Der Grund ist das Vorhandensein sogenann- ter »angeborener Lehrmeister«, die das vorindividuelle ’stammesgeschichtliche’ Wissen verkörpern. So kann von ’sozialem Lernen’ im eigentlichen Sinne gar keine Rede

sein, weil es bereits vor über Millionen Jahren von unseren Vorfahren erlernt wurde und ein fester Teil unseres Wissens ist. So können die meisten Menschen schon in den ersten Sekunden einer Begegnung die Befindlichkeit und Glaub- haftigkeit ihres Gegenüber einschätzen, weil das gesamte mimisch-gestische Ausdrucksrepertoire angeboren ist und, wie Forschungen an taubblinden Kindern ergaben, sich auch ohne Lernen entwickelt. Gleiches gilt im Übrigen auch für Verhaltensmuster im Bereich der Sexualität. Auch sie werden nicht im eigent- lichen Sinne erlernt, weshalb etwa die Blick- und Körper- bewegungen während des Flirtens und Balzens beim Papuaindianer die gleichen sind wie beim Diskobesucher in New York. Der Forschungsbereich der Kindergartenethologie nimmt sprachliche und körperliche Ausdrucksformen, Muster und Funktionen von Aggressivität oder des Spiel- verhaltens in den Blick und offenbart hohe interkulturelle Übereinstimmungen, was für eine naturhafte Verankerung dieser Verhaltensweisen spricht. Bereits im frühen Kindes- alter liegt ein extensives Repertoire an Verhaltensweisen vor, das dann kaummehr erweitert wird. ’Lernen mit allen Sinnen’ Für ein kulturelles-intellektuelles Lernen existiert kein na- türliches Vorwissen. Buchstaben und Zahlen sind Symbole mit Bedeutungscharakter, die sich in der Natur nicht finden lassen. Ein jeder Mensch muss sie immer wieder mühsam erlernen, was allerdings nach Begabungsstruktur und Mo- tivationslage variiert. Unser Gedächtnis für solche Inhalte ist fragil, kann leicht durch andere Inhalte überschrieben werden und bedarf deshalb oft der Verfestigung durch Übungen und Wiederholungen. Um etwas im sogenannten Langzeitgedächtnis jederzeit abrufbar abzulegen, kann ein ’Lernen mit allen Sinnen’ un- terstützend helfen. Eine multiple Präsentation von Stoffen wäre also begrüßenswert. Genau hier setzen Befürworter eines digitalen Lernens an und behaupten, Computerpro- gramme seien eine sinnvolle Erweiterung von anderen Lernmaterialien und damit nützlich für eine verbesserte Verankerung von Wissen. Nun zeigen allerdings die For- schungen der Hirnphysiologie, dass die Zugangskapazitä- ten zum verarbeitenden Gehirn äußerst eng sind, weshalb dieses bei übertriebener Präsentation überreizt reagiert und sich überfordert zeigt. So werden etwa die großen Lerndefizite der deutschen Grundschüler in den grundle- genden Bereichen von Lesen, Schreiben und Rechnen unter anderem auf eine Überfrachtung mit Anschauungsmate- rialien zurückgeführt bei Vernachlässigung von einfachen und stupiden Übungs- und Wiederholungsvorgängen. An- schaulichkeit ist eine unerlässliche Grundlage für das Ler- nen. Sie kann aber nicht beliebig ausgeweitet und gestei- gert werden. Bei einer Überflutung mit Informationen kommt es zu Fehlern in der Informationsverarbeitung, weil dann zu stark selektiert und vereinfacht wird.

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unterschiedliche Wissensstand der Schüler am besten be- rücksichtigt werden können, sondern, wie sich denken lässt, auch eine Kultusbürokratie in ihrem ständigen Kampf um eine angemessene Lehrerversorgung. Warum allerdings die sich an der Spitze des Fortschritts wähnenden Befürworter von integrierten und heterogenen Schul- und Klassensystemen in dieser Form einer individu- ellen Selbstunterrichtung einen Vorteil sehen, bleibt rät- selhaft, wird doch umgekehrt behauptet, dass sich aus dem Zusammenfügen großer Verschiedenheiten in einer Schule und einer Klasse erhebliche Vorteile für das Lernen ergeben. Diese können ja nur auf einer Ebene der Emotio- nen liegen, etwas, was dem Computerlehrer und der ein- samen Lernsituation völlig abgeht. Wer gleichzeitig eine Schule für alle und einen Lehrer für jeden fordert, bezie- hungsweise den Schüler zum eigenen Lehrer erhebt, favo- risiert im Übrigen Gerechtigkeitsvorstellungen, bei denen sich Gleichheit auf die gleichzeitige Anwesenheit in einer Schule und einer Klasse reduziert. Die Idee von der lehrerbefreiten Selbstunterrichtung blendet allerdings das Problemmotivationaler Gegeben- heiten vollkommen aus. Offenkundig dominiert die Vor- stellung, dass ein Schüler sich für jeden Gegenstand so stark selbst motivieren kann, dass er alle Stoffe hochinte- ressant findet, was dann sofort in echte Lernbegeisterung umschlägt. Diese Vorstellung von der Möglichkeit einer »intrinsischen Motivation« geistert seit Jahrzehnten in der Ideenlandschaft pädagogisch-psychologischer Unter- richtstheorie herum, ohne dass man ihrer Einlösung auch nur einen Schritt nähergekommen wäre. Dies liegt vor allem daran, dass man den Zwangscharak- ter, den Schule unvermeidbar auch besitzt, einfach leug- net. Und dieser Zwang hat mit der Gegebenheit zu tun, dass Schule nicht etwas Natürliches ist – die Menschheit hat sie lange nicht gebraucht –, sondern dass sie eine kul- türliche Erfindung darstellt, die aus der Idee eines verfrüh- ten Lernens resultiert. Schüler werden in einem frühen Le- bensalter mit Dingen konfrontiert, wovon die meisten für sie, wenn überhaupt, erst in einem späteren Lebensalter an Bedeutung gewinnen. In ihrem kindlichen Lebensbereich besitzen sie kaum einen Stellenwert. Motivation als Gefühl aber basiert auf einer unmittelbaren Kosten-Nutzen- Kal- kulation in gegenwärtigen Zeit- und Handlungsräumen und da spielt ein Wissen über ferne Länder oder abstrakte physikalische Theorien kaum eine Rolle. Motivation ist ge- bunden an ein Hier und Jetzt und wird immer schwieriger, wenn sie sich auf ein Dann und Dort bezieht. Das aber ist in der Schule in der Regel der Fall, weshalb nicht von einer hohen Lernmotivation ausgegangen werden kann. Das führt zur Frage nach der Herstellung von Lernbereitschaft und damit zwangsläufig zur Rolle und Funktion des Leh- rers. Der Computer kann Tafelbilder, Lehrbücher oder Kar- ten ersetzen, die den lehrerzentrierten Unterricht traditio- nell vervollständigen. Aber es ist unschwer erkennbar, dass der Computer die motivationale Rolle des Lehrers, der Stoffe lebendig aufbereiten und ihre lebensnahen Be- >>

Kurzvita Prof. Dr. Dieter Neumann

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Der Einsatz von digitalen Medien kann ja überhaupt nur im Sektor der Präsentation von Unterrichtsstoffen wirksam werden, also dort, wo traditionell der Lehrervortrag und das Lehrbuch ihren Stellenwert besitzen. In die Grund- struktur des biologischen Lernvorgangs selbst kann kein technisches Gerät optimierend eingreifen. Insofern gibt es auch durch Digitalisierung kein revolutionär neues Lernen. Und ob im Bereich der Präsentation das Mittel des Compu- ters die traditionellen Mittel übersteigt, kann aus den ge- nannten Gründen bezweifelt werden. Die Idee von der lehrerbefreiten Selbstunterrichtung Mit der Idee vom ’digitalen Klassenzimmer’ verbindet sich häufig auch die von der Reformpädagogik favorisierte Vor- stellung einer lehrerbefreiten Selbstunterrichtung. Nach der soll ein eigenständiges Lernen gefördert und die Rolle des Lehrers reduziert werden. An dessen Stelle sollen zu- nehmend Computerprogramme treten, die ein selbstge- steuertes und selbstbestimmtes Lernen ermöglichen sol- len. Die Bertelsmann-Innovatoren formulieren sogar das Ziel einer von jeder curricularen Vorprägung befreiten Schule. Es soll keine allgemeinen Lehrpläne mehr geben, weil Algorithmen für jeden Schüler dessen eigenes Lern- pensum errechnen, das er dann Tag für Tag abarbeiten soll. Das entspräche einer radikalen Auflösung kollektiver Un- terrichtsstrukturen und, wenn man so will, einer Rückkehr zum Hauslehrerprinzip, aber ohne einen menschlichen Lehrer. Das finden nicht nur die Befürworter integrierter Schulsysteme und heterogener Klassenzusammensetzun- gen attraktiv, weil so das persönliche Lerntempo und der Professur für Allgemeine Pädagogik an der Leuphana Universität in Lüneburg mit den Forschungsschwer- punkten ’Theorie- und Ideengeschichte der Pädago- gik’ sowie ’Evolutionäre Anthropologie’. Jetziger Sta- tus: Emeritierter Professor. Zahlreiche Publikationen in den führenden Zeitschriften des Faches. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Phi- lologenverbandes sowie langjähriges Mitglied des Beirates des Deutschen Realschullehrerverbandes.

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züge verdeutlichen soll, der über individuelle Ansprache Bezüge aufdecken und erlahmendes Interesse wieder schonend wachrufen soll und der, wenn dies alles nicht fruchtet und der Stoff dennoch vermittelt werden muss, zu Maßnahmen der Durchsetzung zu greifen hat, nicht über- nehmen kann. Auch dem Schüler selbst ist dies nicht möglich. Denn wäre er sein eigener Lehrer, so müsste er im Falle von Des- interesse und Motivationslosigkeit einen unmittelbaren Zwang auf sich selber ausüben, ein pädagogisches Kunst- stück. Das wusste im Übrigen schon der Volksmund, in dem der Satz kursiert: »Wer sich selbst zum Schüler hat, der hat einen Esel zum Lehrer«. Die Beschäftigung mit Technologiemöglichkeiten und die Feststellung von ’Technologiedefiziten’ in der Pädago- gik sind ein Dauerthema der Disziplin. Der Anspruch, Erzie- hung und Lernen von ungewollten und zufälligen Wirkun- gen befreien und diese Prozesse in eine zielgerichtete Technologie überführen zu können, ist immer wieder erho- ben und immer wieder verworfen worden. Die im 19. Jahr- hundert häufig anzutreffende Vorstellung, dass die Päda- gogik eines Tages eine so exakte Disziplin wie die Physik oder die Medizin sein würde, ist ebenso enttäuscht worden wie alle späteren Versuche, Erziehung und Lernen technik- fähig zu machen. In den 1970er-Jahren stand kurzfristig das Konzept ei- nes »programmierten Lernens« im Fokus der Unterrichts- theorie. Das Konzept verknüpfte behavioristische Lernvor- stellungen mit den Ansprüchen einer kybernetisch-infor- mationstheoretischen Didaktik und sah konkret eine Un- terteilung des Unterrichtsstoffes in kleinteilige Lerneinhei- ten vor, die logisch aufeinander aufbauen und nacheinander bearbeitet werden sollten. Auch dieser An- satz war mit der Vorstellung eines eigenständigen, selbst- kontrollierten Lernens an Hand von Tafeln und Texten unter Reduktion der Lehrerrolle verbunden. Es zeigte sich aber bald, dass die Aufteilung des Stoffes in kleine operative Einheiten eigentlich nur für die naturwissenschaftlichen Fächer taugte, weil nur hier der Dualismus von Ja-/Nein- Antworten Anwendung finden konnte und dass auch die motivationale Basis der Schüler falsch eingeschätzt wurde, die ohne kooperative Formen und ohne Anregungen durch den Lehrer verflachte. Ein ähnliches Schicksal erfuhren die in den 1980er-Jah- ren in Mode gekommenen ’Sprachlabore’, von deren tech- nischer Ausrüstung man sich eine erhebliche Verbesserung des Erwerbs einer Fremdsprache versprach. Auch in diesem Falle enttäuschte der Einsatz von Medien auf ganzer Linie und die Labore fristeten bald ein Dasein als schulische Ab- stellkammern. Pädagogik und gesellschaftliche Trends Es ist nicht das erste Mal, dass die Pädagogik von einem gesellschaftlichen Trend erfasst wird, der zunächst einmal nichts genuin Pädagogisches aufweist, von dem aber bald

verbreitet wird, er würde bei Einbeziehung in das Feld von Schule und Erziehung für positive Veränderungen sorgen. Als es Ende der 1950er-Jahre zum sogenannten »Sput- nikschock« kommt, weil es so aussieht, als könnte der Os- ten den Kalten Krieg gegen denWesten gewinnen, wird eine Schul- und Bildungsreform für nötig erachtet und in Gang gesetzt, um dies zu verhindern. Der pädagogischen For- schung standen zu diesem Zeitpunkt aber überhaupt keine neuen Erkenntnisse zur Verfügung, die eine fortschrittliche Modernisierung hätte rechtfertigen können. Die schnell ein- geleiteten Reformschritte erwiesen sich deshalb bald als untaugliche Verbesserungsversuche und wurden nach einer Weile stillschweigend wieder zurückgenommen. Als Ende der 1960er-Jahre eine antiautoritäre Jugend- und Studentenbewegung mit einer Vielzahl widersprüchli- cher Politikvorstellungen die Gesellschaft aufzumischen versucht, verändert die sich gerade auf demWeg zu einer »empirischen Wendung« befindliche Pädagogik abrupt ih- ren Charakter und verwandelt sich in eine Philosophie der politischen Befreiungsbewegung. Als es dann mit der so- zialen Bewegung zu Ende geht, bleibt eine theoretische Pädagogik ratlos zurück. Auch der Gedanke der ’Inklusion’ ist keine pädagogische Idee, sondern eine ethisch-moralische Forderung einer internationalen politischen Organisation. Trotzdemmacht sich der Mainstream der Pädagogik diese sofort zu eigen und scheitert seither an ihrer praktischen Durchsetzung. Gleiches gilt für das Problemmit der ’Heterogenität’. Dies ist zunächst ein von Vertretern des Multikulturalismus begrüßter gesellschaftlicher Zustand, der sich alsbald in Schulen und Klassen abbildet. In der Pädagogik werden nun keinesfalls Risiken für Lernen und Unterrichtung gese- hen, obwohl Erfahrung und Daten für Differenzierung und Homogenität sprechen, sondern Chancen betont, die bis heute unsichtbar bleiben. Die Pädagogik nimmt also gerne Trends, Moden oder Zeitgeiststimmungen des nichtwissenschaftlichen, gesell- schaftlichen Bereichs auf und verspricht vorschnell Lösun- gen, ohne überhaupt eine gründliche Machbarkeitsprüfung vorgenommen zu haben. Richtig ist allerdings auch, dass gesellschaftliche Instanzen Probleme an die Pädagogik herantragen und entsprechende Erwartungen schüren, de- nen dann zumeist auch entsprochen wird. Dies ist professionstaktisch vorteilhaft, weil es die Päda- gogik im Gespräch hält und ihre Bedeutung unterstreicht. Für ein prinzipiell fortschrittsunfähiges Fach, das nicht in der Lage ist, die beharrlich statischen Grundzüge seines Gegenstandes zu dynamisieren, ist eine solche Verhaltens- weise natürlich überlebensnotwendig, es sei denn, die Tar- nung fliegt auf. Neue Entdeckungen mit Bedeutung für die Verbesse- rung von Lehr- und Lernprozessen hat die Pädagogik schon lange nicht mehr gemacht und deshalb ist sie grundsätz- lich erfreut über jede neue gesellschaftliche Welle, die sie wie ein Surfer abreiten kann. Und die jüngste Welle ist die der Digitalisierung. Prof. Dr. Dieter Neumann

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Macht Yoga! In der Pause, im Unterricht, auf dem Schulhof Mit Yoga in Schulen neue Wege gehen! Übrigens: Yoga kann auch im Umgang mit Corona stärken.

Das vorliegende Plädoyer befasst sich mit der zu- kunftsweisenden Idee des Implementierens von Yoga für Kinder und Jugendliche in Bildungsein- richtungen. Hier finden sich Argumente für eine Anwendbarkeit von Yoga in Schulen sowie ein Ein- blick in wissenschaftliche Aspekte und den päda- gogisch-gesellschaftlichen Nutzen von Entspan- nungstechniken. »Die Aufgabe der Umgebung ist es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.« Maria Montessori Einleitung Die Diskussion über Yogatechniken als Möglichkeit der Entspannung für Kinder in Schulen ist bereits in den acht- ziger Jahren in Deutschland entstanden. Yoga hat seit- dem für viele Deutsche in die private Form der Gesund- heitsförderung Einzug gehalten. Auch viele Firmen lassen es sich nicht nehmen, ihren Mitarbeiterinnen und Mitar- beitern Yoga als Mittagspausenentspannung oder tägli- che Übungsform (implementiert durch regelmäßige In- formations- oder Fortbildungsveranstaltungen) zugute- kommen zu lassen. Man weiß dort mittlerweile um die nachhaltig positiven gesundheitlichen Wirkungen von Yoga, von einem damit einhergehenden niedrigen Kran- kenstand, gesteigerter Leistungsfähigkeit, seelischer Zufriedenheit und körperlicher Ausgeglichenheit mal ganz abgesehen. Die Gesellschaft sollte bereits an den Wurzeln gepflegt werden. Je früher man mit der Gesundheitsförderung und den entsprechenden Maßnahmen in Kitas und Schulen be- ginnt, desto zufriedener, stärker, gesünder und leistungs- fähiger ist eine Gesellschaft. Kitas und Grundschulen sind zum Glück bereits auf das Pferd aufgesprungen und tragen mit zumTeil enormen Bemühungen und einer offenen Haltung dazu bei, die Ge- sundheit unserer Kinder von Grund auf zu fördern. Leider lassen noch immer weiterführende Schulen in Deutschland zwischen Kinderjahren und Berufswelt eine lange und leere Lücke, und das obwohl Schüler ab zehn Jahren Entspannungstechniken und Resilienzförderung mehr denn je benötigen und die Schulcurricula mehr denn je auf Leistungsdichte zielen.

Berichte aus der Praxis

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Das soll und muss sich ändern! Obwohl sie meines Erach- tens auf der Hand liegen, werden die Gründe und der Nut- zen für die Implementierung von Yogaeinheiten/Entspan- nungstechniken an Bildungseinrichtungen hier imWesent- lichen nochmal dargelegt. Weil es nach aller Einsicht aber oft an Ideen zur Praktikabilität sprich an einer Umset- zungsfantasie fehlt, beziehe ich mich neben meiner eige- nen Erfahrung als Yoga-Lehrerin an einem Gymnasium auch auf mehrere Artikel, die hierzu Stellung nehmen. Zunächst wird dabei ein Fokus auf eine mögliche Imple- mentierung von Entspannungstechniken in die Lehrpläne an deutschen Schulen (1) gelegt. Zum einen weise ich auf flexible und in Schulen anwendbare Stundenkonzepte für Yogaübungen hin, die zu entwickeln sich die hier genann- ten Autoren bemüht haben. 1 Entspannungszeiten in Bildungs- einrichtungen: Ein Blick in die Lehrpläne Entspannungszeiten gehören in jede Form von Bildungs- einrichtung, darüber gab es noch nie so wenig Zweifel wie in den vergangenen Jahren. Entspannungsformen wie Yoga, Tai-Chi, progressive Muskelrelaxation, Traum- »  Christine Kurylas ist Lehrerin für die Fächer Englisch und Französisch am Gutenberggymnasium in Wiesbaden. Seit fünf Jahren unterrichtet sie auch Yoga im Ganztagsangebot für Schüler der Klassen 5 bis 7. Im Plädoyer für Yoga an Schulen bezieht sie sich auf ihre eigenen Erfah- rungen zur vorliegenden Thematik. Sie berücksichtigt des Weiteren vier Leitartikel: In ihrer Einleitung nimmt sie Bezug auf langjährige Beob- achtungen von Fessler/Kaiser und Bahrmann. Abschließend setzt sie sich mit Untersuchungsergebnissen von Gurlitt und Stück zumThema der Relevanz von Yoga und Entspannungsmethoden an Schulen aus- einander. >>

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reisen, etc. sind als unabdingbare Bestandteile der deut- schen Lehrpläne zu sehen. Man kann in den Lehrplänen der Bildungsministerien dies auch erkennen, jedoch haben Yoga und Entspannungstechniken bisher als ernstzuneh- mendes Fach keinen Stellenwert in der Rhythmisierung des Stundenplans an deutschen Schulen gefunden. Das ist auch (hier noch) nicht das Ziel. Wir stehen hingegen vor der Herausforderung, Konzepte zu entwickeln, die die Integration von Entspannungsleisten in den Schulalltag vorsehen. Auch in der Lehramtsausbil- dung sollten bereits Elemente von Entspannungstechniken vorhanden sein, welche zukünftige Lehrerinnen und Lehrer dazu befähigen, kleinere Elemente der Entspannung in den Klassen zu kultivieren, und zwar nicht nur aus eigenem An- trieb heraus, sondern als ’ordentlicher’ Teil des modernen Unterrichts und des offiziellen bundesweiten Curriculums für alle Schulformen. Bisher werden diese Formen der Ent- spannung an den Sportunterricht geknüpft. Dabei kann Entspannungsfähigkeit doch als eigene allgemein fachli- che Kompetenz bezeichnet werden. Sie ist letztendlich Teil sogenannter ’Life Skills’, die in der Bewältigung der zukünf- tigen Lebens- und Berufswelt ununterbrochen benötigt werden. 2 Moderne Lehrpläne können nicht umhin, Entspan- nungstechniken einen Stellenwert beizumessen, der einen entsprechend gestalteten Schulalltag ermöglichen sollte. Yoga in den Schulalltag zu bringen, sollte ein Ziel imVor- haben sein, Schulkonzepte mit Yogaeinheiten zu versehen. Fakt ist allerdings, dass kaum eine Schule einen Yoga- oder Ruheraum hat; wenn überhaupt, dann findet man einen solchen immerhin in vielen Kindergärten oder in Grund- schulen. Deshalb bietet es sich meines Erachtens an, Ent- spannungssequenzen in den Unterricht von weiterführen- den Schulen einzubauen, für die nicht unbedingt ein eige- ner Unterrichtsraum zur Verfügung stehen muss. Es gibt Fachpersonal, das Yogafortbildungen für Lehrer anbietet,

entsprechende Konzepte entwickelt hat und Lehrkräfte da- zu ermutigt, mit den Schulleitungen vertrauensvoll zusam- menzuarbeiten. Yoga bedeutet in erster Linie auch, ein fei- nes Gespür für sich selbst zu entwickeln. Mit diesem kann man als Lehrkraft umso eher ein entsprechendes Gespür für seine Schüler aufbringen und ihnen dabei helfen, in der modernen Leistungsgesellschaft zurechtzukommen. Werfen wir einen Blick auf entsprechende wissenschaft- liche Aspekte angeregt von Gurlitt (3) und Stück (4) . Der Umgang mit Stressoren Kinder sind ebenso wie Erwachsene in ihrem Umfeld einer Vielzahl von Stressoren ausgesetzt. Erwachsene suchen und finden ihre Möglichkeiten, diesem Stress durch Medi- tationstechniken und Yoga sowie durch Sport und gute Er- nährung zu begegnen. Kinder und Jugendliche können sich aufgrund ihres Alters noch nicht entsprechend selbst regu- lieren. Sie begegnen im Alltag verschiedenen Herausforde- rungen und erleben hierbei nicht selten seelische Belas- tungen durch: • Schule (zu große Klassenstärken, wenig differenzierende Leistungsanforderungen, mangelnde Rückzugsmöglich- keiten und Lärm) • Leistungs- und Wettbewerbsdruck (Lernkontrollen, Wettbewerb um Lehrstellen oder Studienplätze) • persönliche Entwicklung (Pubertät, Identitätsprobleme) • soziale Entwicklung (Gruppenkonflikte, Auseinanderset- zung mit Gleichaltrigen) • Elternhaus (Kontrolle und Leistungserwartungen durch die Eltern, Konflikte innerhalb der Familie) Wenn Beanspruchungen zu Belastungen werden, wie es heute stark beobachtet werden kann, können sich daraus unangemessene Folgen für unsere Kinder und damit die kommende Erwachsenengeneration ergeben:

2. Durch Zur-Verfügung-Stellen von persönlichen Bewäl- tigungstechniken. - Auf der äußeren Ebene durch die Vermittlung von Lern- techniken. - Innerlich durch Stabilisierung auf der Persönlichkeits- ebene, um einen Regulationsausgleich zu ermöglichen, eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Handeln (Selbstregulation). Beide Bereiche 1 und 2 müssen dabei ineinanderwirken. Bewertungssysteme, Regulierungs- mechanismen, Förderung von Resilienz Das menschliche Bewertungssystem nach Lazarus (Coping-Konzept 3 ) unter die Lupe genommen: Wenn ein Mensch Situationen bewertet, tut er dies ei- nerseits subjektiv und empfindet eine Situation beispiels- weise zunächst als bedrohlich oder auch unbedeutend (primäre Bewertung). In einem zweiten Bewertungssystem muss der Mensch seine eigenen Bewältigungskompeten- zen aktivieren, um Probleme unter Kontrolle zu bringen. Wenn man dies kann, ist die Stressphase zu Ende, die Auf- gabe kompetent erledigt und sie wird neu bewertet. Entspannungsmethoden Für einen funktionierenden Organismus ist die Balance zwischen Anspannungs- und Entspannungsphasen ent- scheidend. Wenn Kinder nicht genügend Entspannungs- möglichkeiten finden, die ihremWohlbefinden zugutekom- men, wird diese Balance gestört. Selbstregulationsmethoden sind entweder passiv zu erwerben durch: • autogenes Training • Meditation • Atemübungen (Yoga-Pranayama) • Fantasiereisen • ’Mentales Wegdriften’ zu Entspannungsmusik oder aktiv durch: ermöglichen das Erlernen und Trainieren von Selbstregulation

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Bild: Andrey/AdobeStock

Anstelle von erhöhter Anpassungsfähigkeit und Entwick- lung von überlebenswichtiger Resilienz zeigen Kinder Mü- digkeit, Erschöpfung, psychische und physische Sympto- me. Diese resultieren aus Überforderung, Unterforderung, Stresserleben bei Bedrohungen und durch psychische Sät- tigung (Frustration). Chronischer Stress kann auch im Kin- des- oder spätestens im Erwachsenenalter zu chronischen seelischen und körperlichen Erkrankungen führen. Ge- nannt seien hier nur einige Beispiele wie Rücken-, Na- cken-, Schulterschmerzen, Gefühle von Erschöpfung, depressive Verstimmungen, Traurigkeit, Angespanntheit, Einsamkeit, Schuldgefühle, Hilflosigkeit, um nur einige zu nennen. Als vegetative Erscheinungen seien unter anderem Übel- keit, Magen-Darm-Beschwerden, Spannungskopfschmer- zen, Hypertonie (Bluthochdruck), Schlafstörungen, Nervo- sität, Unruhe und Konzentrationsschwächen genannt. Als Folge von Stresserleben können sich Verhaltensauf- fälligkeiten in Lernsituationen und im sozialen Miteinander entwickeln. Kinder, die sich in einem bio-psycho-sozialen Spannungsfeld befinden, können sich nicht adäquat mit den wachsenden und oft der menschlichen Natur wider- sprechenden Anforderungen/Herausforderungen des me- dialen Zeitalters auseinandersetzen. Hinzu kommt, dass die jetzige Generation – im Gegensatz zu der Generation ihrer Eltern – erlebt, wie Normen und Werte sich rasant verändern, ja zumTeil sich aufzulösen scheinen. Hierar- chien und autoritäre Strukturen brechen zusammen und ziehen eine gewisse Suche nach Neuorientierung nach sich. Hier kann man ansetzen, um Kindern bei der Begegnung mit den neuen Herausforderungen/den neuen Stressoren zu begegnen: 1. Durch Veränderung der Bedingungen in der Schule und im Elternhaus.

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• progressive Muskelrelaxation • Körper- und Dehnübungen • Yoga mit Atemachtsamkeit • Massagen • Sinnesübungen • kreatives Gestalten mit Musik • Tanz Zur Begriffsdefinition des Yoga

Yoga ist altindisches Kulturerbe. Die ersten bildlichen Zeugnisse von Meditierenden datieren aus der Indus-Kultur um 2500 bis 1800 v. Chr. Man nimmt an, dass Rishis (Seher) damals bereits Versenkungstechniken praktizierten, um ihr Bewusstsein zu erweitern und Erkenntnisse zu gewin- >>

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nen. In den Upanishaden wird Yoga als ’Anjochen’ des Be- wusstseins beschrieben und interpretiert als Zügelung der Sinne. Unsere Gedanken werden dabei als ’wilder Ochse’ gesehen, den man vor den Karren spannen und zügeln, zur Ruhe bringen will. Ziel ist es, die Unwissenheit (Avidaya) zu überwinden und das Dasein zu begreifen. Die Upanishaden sind die philosophischen Kommentare zu den Veden , so genannte »Hymnen vomWissen«. Die Veden sind das äl- teste überlieferte Schriftdokument Indiens. Die erste systematische Zusammenfassung des existie- renden Yogawissens erfolgte etwa 200 v. Chr. durch die Yoga-Sutren von Patanjali . Dort findet man in vier Kapiteln 196 kurze Merksprüche über das wichtigste Wissen über Yoga. Sie sind atheistisch geprägt und dienen als Übungs- praxis zu einer bestimmten Lebensweise und Art des Den- kens in Verbindung mit der Atmung und dem Körper. Schwerpunkt: Yoga für Kinder Eine Definition von Kinderyoga aus heutiger Sicht nach Stück et al. 2011 definierte eine Arbeitsgruppe 4 an der Universität Leipzig eine Definition für Kinderyoga: »Der Kinderyoga ist eine Vorbereitung für den acht- gliedrigen Übungsweg des klassischen Yogas. Der Übungsweg für Kinder beinhaltet vor allem die Stufen 1 bis 6 und wird in einer besonderen Übungsmethodik vermit- telt. Das Unterscheidende zum Erwachsenen-Yoga be- steht in der spielerischen, kreativen Umsetzung. Das klas- sische Ziel besteht nach wie vor [im] »yoga citta vrtti niro- dah« , also demVerlangsamen (nirodah) der [zu] wählen- den Bewegungen bzw. Gedanken. Ausgewählte Elemente, die yogaunspezifisch sind, sollten ausschließlich zum Ziel haben, Kinder für die Ausführung des klassischen Yoga- weges zu motivieren, welcher das Ziel des Yogas bleibt«. 5 Hatha-Yoga, entwickelt im 11. und 12. Jahrhundert, eignet sich besonders gut für Kinder. »Ha« bedeutet Sonne und »Tha« bedeutet Mond. Hatha meint die Vereinigung der Polaritäten zur Herstellung von Harmonie. Dadurch werde der Mensch unempfindlicher gegen Unwohlsein und Krankheiten. Ein Kinderyogalehrer sollte beim Unterrichten nach- • Kinder nicht zum Üben zwingen • Yoga üben ohne Erfolgsdruck • Begeistern können • Ausgewogenheit zwischen statischen und dynamischen Asanas und dynamischen Bewegungsabläufen und ’Nachspüren’ • Geduld und Frustrationstoleranz gegenüber Störenfrieden • Genaue Beobachtung der Kinder, Empathie und flexible Anpassung an veränderte Situationen • Spaß, Freude und Fantasie anregen • Kinder in die Gestaltung einbinden, Verantwortung über- nehmen lassen folgende Kriterien beachten: • Authentizität/eigener Stil

• Erfolgserlebnisse vermitteln, zum Beispiel durch Gleich- gewichtshaltungen • Übungsstunde nicht zu lang ausdehnen • Zuwendung • Die Marge zwischen der natürlichen kindlichen Sehn- sucht nach Stille und einem unbändigen Bewegungs- drang im Blick haben • Vermieden werden sollten extreme Dehnungen, lange Atemverhalten, starke Halswirbelsäulenbelastungen, Reinigungsübungen; Augen können im Entspannungs- zustand offen bleiben, wenn das Kind sich damit wohler fühlt, Vermeidung von Yoga bei psychisch schwer gestör- ten Kindern, keine Umkehrhaltungen bei Hypertonie (Bluthochdruck) und kein Schulterstand bei Schilddrü- senproblemen. Inhaltlich sollte vermittelt werden: • Vom achtgliedrigen Yogapfad nur die Pfade 1 bis 6 6 • Die fünf Säulen des Hatha-Yoga (Asana, Pranayama, Ernährung, positives Denken, Meditation). Wissenswertes über Entspannung und Achtsamkeit und warum dies Schulkindern zuträglich ist Entspannung und Muskeltonus Es ist nichts Neues, dass ein Zusammenhang zwischen psy- chischer Erregtheit, Angst, Stress, Unruhe einerseits und der Tonuserhöhung der Muskulatur andererseits besteht. 7 Somatische Stressreaktion äußert sich in einem gesteiger- ten Muskeltonus und kann wiederum durch Entspannung beseitigt werden. Wie sich die Angst auf den Muskeltonus auswirkt, kann gesteuert bzw. beeinflusst werden, indem die Erregbarkeit vieler Neuronen geringer ist und Rezepto- ren nunmehr andere Informationen weitergeben. Entspan- nung durch passive Konzentration, zum Beispiel beim Aus- üben von Asanas, führt zu einer Senkung des vegetativen und motorischen Tonus. Derselbe Effekt wird in der Nach- spürphase nach der Ausübung einer Asanareihe erreicht. Die gilt ebenso bei bewusstem Ausüben von Asanas mit ei- nem Atemmuster: bei Anspannung einatmen, bei Entspan- nung ausatmen. 8 Asanas erzielen neben Entspannung auch vitalisierende Effekte durch eine Aktivierung des ZNS, die als Frischegefühle beschrieben werden. Achtsamkeit ImYoga ist es unter anderem Ziel, Achtsamkeit zu entwi- ckeln. Hier richtet sich ein Mensch auf innere Prozesse wie Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle. Durch die- sen Prozess können auch Haltungen überdacht, Denk- und Handlungsgewohnheiten modifiziert werden. So entsteht ein größerer Raum zwischen Wahrnehmung und Reaktion, was bei Kindern zur Entwicklung von Resilienz und Charak- terstärke sehr wichtig ist. Die achtsamkeitsbasierte Stress- reduktion durch Pranayama, Meditation, Body Scan etc. steigert die Lebensqualität, lindert Depressionen und Ängste, und führt zu einem Anstieg der Selbstachtung.

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Atemübungen Die Atmung ist ein Verbindungsglied zwischen Körper und Geist. Patanjali 9 beschreibt, dass der Übende durch die Ar- beit mit seinem Atem Zugang zu seinen Emotionen hat. Beim Ausatmen kann man die eigenen Gedanken beruhi- gen. Nur durch die Aktivierung der Bauchatmung, die über die Zwerchfellatmung funktioniert, wird Entspannung möglich, nicht über die Brustatmung. Viele Kinder und noch mehr Erwachsene verlieren schon früh die Kontrolle über die natürliche Bauchatmung. Diese Bewusstmachung ist eine meiner ersten Übungen im Kinderyoga. Auf der psychologischen Ebene verbessern sich bei den Kindern die Stimmung und die Vitalität, Aggressivität und Angst nehmen ab. Zufriedenheit stellt sich ein. Auf biologischer Ebene nehmen Cortisol- und Testoste- ronanteile ab. Weiterhin erreichen Kinder im Idealfall ihr gesundes Körpergewicht. Es wurde eine Zunahme von Kör- perfestigkeit und körperlicher Leistungsfähigkeit beobach- tet. Zudem wurde die Erholungsfähigkeit der Kinder am Parameter der Herzfrequenzvariabilität beobachtet. Auf psychologischer Ebene verbessern sich impulsive Verhaltensweisen, Hyperaktivität wird abgebaut und die Konzentration wird gesteigert. Es folgt die automatische Integration von erlernten Yogatechniken in den Alltag. Wissenschaftliche Untersuchungen zumYoga mit Kindern und Jugendlichen Um Kindern die Chance zu bieten, Yoga in ihren Alltag zu integrieren, sind Bildungseinrichtungen notwendig, die dieses Vorhaben unterstützen. Markus Stück arbeitete 1994 im Rahmen einer Dissertation an einem Zwei-Jahres- Projekt mit Mittelschülern einer Leipziger Schule. Er er- stellte ein Yogaprogramm, das er mit wissenschaftlichen Methoden untersuchte. In einer Tagung zu ’Yoga in der Schule’ in Essen stellte er die Ergebnisse seiner Forschung vor. Anhand seiner Dissertation ebnete er den Weg für eine öffentliche Diskussion über und die Akzeptanz zumThema Yoga in Institutionen wie Schulen. Weitere Personen, die sich demThema annahmen, waren Susanne Augenstein und Nicole Goldstein. 2002 entwickelten und evaluierten sie evidenzbasierte Kinderyogaprogramme für Grundschü- ler, unter anderem für hyperaktive Kinder. In einemmehr- jährigen Erprobungs-, Entwicklungs- und Evaluationszeit- raum wurden auch drei- bis sechsjährige Kinder in der For- schung berücksichtigt sowie Kinder aus Hauptschulen und Gymnasien. Seitdem bieten auch Kindergärten Yoga an. Um unmittelbare Beobachtungen durchführen zu kön- nen, wurden bei den Kindern vor und nach Yogaeinheiten Herzfrequenz und systolischer Blutdruck sowie Cortisol- und Immunglobulin-A-Spiegel im Organismus gemessen (Letzterer ist ein Antikörper zur Stärkung der Immunab- Anzustrebende Ziele imYoga mit Kindern und Jugendlichen

Literarische Quellen und Bezugnahme

wehr, der im entspannten Zustand vermehrt ausgeschüttet wird). Es wurde insgesamt eine zunehmende Balance im Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathi- kus beobachtet. 2011 wurde eine Stichprobe mit Kindern an der Universi- tät Leipzig im Rahmen der Diplomarbeit von Görbing und Ludwig 10 gemacht und eine zufriedenstellende Bilanz ge- zogen. Ein Beispiel: Bei der Messung der Herzfrequenz kann man die parasympathisch gesteuerte Entspannungs- fähigkeit von Menschen erkennen. Die langfristig beobach- teten Messungen der Herzfrequenzvariabilität in der Stich- probe ließen auf einen sogenannten Transfereffekt der kindlichen Entspannungsfähigkeit schließen. Mittlerweile wurde das Programm erweitert und als KOP (Körper-orientiertes Programm) bundesweit sowie in der Schweiz, in den Niederlanden und in Luxemburg verwen- det. Das Programm von Dr. Susanne Augenstein wird fort- laufend evaluiert. 11 Die meisten Forschungen zumThema Yoga mit Kindern wurden in Indien und in den USA erstellt und in Journalen veröffentlicht. 12 Erwähnenswert wäre hier meines Erachtens noch die Dissertation von Shannon Price 2008, die neben interes- santen Beobachtungen ihrer Arbeit auch ein von ihr entwi- ckeltes Ausbildungshandbuch für Lehrer anbietet. 13 Lehrkräfte im Blick: SYSRED – Das Netzwerk Schule Stück entwickelte 1994 bis 2006 ein integratives Belas- tungsbewältigungskonzept für Kita, Hort und Schule: 4. Stück, Markus (Hrsg.): Wissenschaftliche Grund- lagen zumYoga mit Kindern und Jugendlichen, aus: ’Neue Wege in Psychologie und Pädagogik, Buch 3’, Schibri Verlag, Uckerland OT Milow 2011. 1. Fessler, Norbert; Kaiser, Alexia: ’Entspannungs- training in der Schule’. Ergebnisse einer Bildungs- analyse in der Primarstufe. In: Viveka 53, Persön- lichkeit bilden. Eine Untersuchung von Prof. Dr. Norbert Fessler und Alexia Kaiser zur Verwendung von Entspannungstechniken in den bundesweiten Bildungslehrplänen der Primarstufe und die Bedeutung deren Implementierung mit besonde- rem Bezug auf Yoga, S. 7 bis 14. 2. Bahrmann, Anna Leena; Rechlin, Magdalena: ’Yoga macht Schule’. Ein Fortbildungskonzept für Pädagoginnen und Pädagogen. In Viveka 53, Persönlichkeit bilden, S. 15 bis 21. 3. Gurlitt, Cornelius: ’Man soll Denken lehren, nicht Gedachtes’, in: Becker-Oberender Cornelia; Sriram, R.: Yoga für Kinder und Jugendliche, Petersberg, Verlag Via Nova 2015.

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