Blickpunkt Schule 5/2020

Solche Szenen offenbaren auch, dass in der Schule kein Interesse für die digitale Welt mehr geweckt werden muss, sondern dass es vielmehr umgekehrt umWarnungen vor Suchtstrukturen geht. Der Behauptung, dass durch digitale Medien ein trocke- ner Schulstoff lebendiger und anschaulicher aufbereitet werden kann, weil er so mehrere Sinne anspricht und Wis- sen deshalb besser verankert werden kann, wird mit dem Argument der Gefahr einer Reizüberflutung begegnet. Der Lernvorgang bedarf der Ruhe und Konzentration auf eine klare Strukturierung, die durch ein »multimediales Feuer- werk« aufgelöst wird. »Vertieftes Lesen« Weitere Forschungen deuten darauf hin, dass das Lesen an Bildschirmen mit Nachteilen verbunden ist. Die Lin- guistin Naomi Baron behauptet, dass das Lesen gerade längerer Texte auf dem Bildschirm schwieriger ist als im Buch. Multimediale Lerninhalte verankern sich schlechter im Gedächtnis als gelesene Buchtexte. Kleinkinder blät- tern noch in Bilderbüchern. Je älter die Kinder jedoch werden, desto geringer wird der Anteil bildhafter Darstel- lungen. Bei reinen Textbüchern entwickelt sich Fantasie, weil Kinder anfangen, sich neue Welten vorzustellen. Es handelt sich dabei um einen Transfer von schwarzen Buchstaben in bunte Vorstellungswelten, wodurch denke- rische Fähigkeiten und imaginäres Vermögen entwickelt werden. Der Niederländer Adrian van der Weel von der Uni Leiden will herausgefunden haben, dass das Erinnerungsvermö- gen durch die physikalische Verortung des Gelesenen be- günstigt wird. So werden bestimmte Textpassagen mit ihrer Position in einem konkreten Buch verknüpft, weshalb wir diese dann vor unserem »geistigen Auge« haben. Wenn wir am Com- puter scrollen oder auf dem Gerät verschiedene Texte le- sen, bleibt eine solche Verortung aus. Die Kognitionspsychologin Rakefet Ackermann plädiert in einem Interview für ein »vertieftes Lesen«, weil sich aus einem solchen die größte Lerneffektivität ergibt. Anders als beim Hören eines Textes oder beim Betrachten eines Vi- deos, kann beim Lesen das Tempo mit dem die Information verarbeitet wird, kontrolliert werden. Beim vertieften Lesen können Menschen je nach ihrer Fähigkeit der Informations- aufnahme vor- und zurückgehen. Bei einemVideo oder ei- nem Hörtext ist das Informationstempo dagegen vorgege- ben. Auf jeden Fall ist es in beiden Fällen sehr aufwendig, durch Vor- und Rückspulprozesse zu überprüfen, ob man wirklich alles verstanden hat. Man kann zudem nicht noch einmal alles schnell überfliegen, um sich einen Begriff oder eine Abkürzung in Erinnerung zu rufen, wie dies beim Lesen möglich ist. Digitale Geräte, so die Wissenschaftlerin, ver- führen zu oberflächlichem Lesen. Aus diesem Grund ist von einer Unterlegenheit der Arbeit am Bildschirm bei Lern- und Problemlösungsversuchen, bei der Selbstein- >>

Leitartikel

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Drei Viertel der befragten Lehrer sagen, dass die Fähigkeit von Schülern, sich beim Lernen zu konzentrieren, beim Ein- satz digitaler Medien sinke. Eine Rolle spiele dabei, dass über diese der Kontakt zu den sozialen Netzwerken gehal- ten wird und sich dabei ein großes Suchtpotenzial mit ab- lenkender Wirkung entfaltet. Digitalisierung und soziales Lernen Den mehr pauschalen und wenig dezidierten Lobgesängen auf einen digitalen Unterricht stehen präzise Einwände ge- genüber. So äußert Gerald Lembke scharfe Kritik an der Bertelsmann-Studie, die die erkennbaren Nachteile des di- gitalen Lernens übersieht und die auch die sehr kritische Bewertung des Einsatzes digitaler Hilfsmittel durch die OECD aus dem Jahre 2015 einfach übergeht. Lembke ver- weist auf neurobiologische Einsichten derart, dass die Rei- fung des kindlichen Gehirns in den ersten Lebensjahren nur dann zu einer optimalen Entfaltung des kognitiven Po- tenzials führt, wenn diese ohne Störung erfolgt. Als eine solche könnte eine zu frühe Erfahrung mit virtuellen Wel- ten bewertet werden, weil eine starke Verwurzelung in der konkreten Realität Voraussetzung für eine natürliche Ent- wicklung ist. Im Sinne eines Passungsgedankens benötigt das Gehirn eine erwartete einfach strukturierte Welt. Tablets und Smartphones liefern eine solche nicht. Bestätigt wird die Gefahr einer Realitätsverzerrung durch digitale Medien von der Erziehungswissenschaftlerin The- resa Schilhab von der Universität Aarhus. Wenn Kleinkinder mit iPads unterhalten werden, wenden sie sich immer wei- ter von der gegenständlichen Welt ab und verlieren so den »physischen Anker« der unmittelbaren Erfahrung. Das multimediale Füllhorn verdrängt die reale Welt. Problema- tisch erscheint eine Digitalisierung auch hinsichtlich des sozialen Lernens. Dieses kann sich nur in direkter Kommu- nikation mit und Wahrnehmung von anderen Menschen abspielen. Störungen eines solchen Prozesses zeigen sich zunehmend im bereits digitalisierten Alltagsleben, wenn Jugendliche nicht mehr miteinander, sondern nur noch mit dem eigenen Smartphone kommunizieren.

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