Blickpunkt Schule 5/2020

unterschiedliche Wissensstand der Schüler am besten be- rücksichtigt werden können, sondern, wie sich denken lässt, auch eine Kultusbürokratie in ihrem ständigen Kampf um eine angemessene Lehrerversorgung. Warum allerdings die sich an der Spitze des Fortschritts wähnenden Befürworter von integrierten und heterogenen Schul- und Klassensystemen in dieser Form einer individu- ellen Selbstunterrichtung einen Vorteil sehen, bleibt rät- selhaft, wird doch umgekehrt behauptet, dass sich aus dem Zusammenfügen großer Verschiedenheiten in einer Schule und einer Klasse erhebliche Vorteile für das Lernen ergeben. Diese können ja nur auf einer Ebene der Emotio- nen liegen, etwas, was dem Computerlehrer und der ein- samen Lernsituation völlig abgeht. Wer gleichzeitig eine Schule für alle und einen Lehrer für jeden fordert, bezie- hungsweise den Schüler zum eigenen Lehrer erhebt, favo- risiert im Übrigen Gerechtigkeitsvorstellungen, bei denen sich Gleichheit auf die gleichzeitige Anwesenheit in einer Schule und einer Klasse reduziert. Die Idee von der lehrerbefreiten Selbstunterrichtung blendet allerdings das Problemmotivationaler Gegeben- heiten vollkommen aus. Offenkundig dominiert die Vor- stellung, dass ein Schüler sich für jeden Gegenstand so stark selbst motivieren kann, dass er alle Stoffe hochinte- ressant findet, was dann sofort in echte Lernbegeisterung umschlägt. Diese Vorstellung von der Möglichkeit einer »intrinsischen Motivation« geistert seit Jahrzehnten in der Ideenlandschaft pädagogisch-psychologischer Unter- richtstheorie herum, ohne dass man ihrer Einlösung auch nur einen Schritt nähergekommen wäre. Dies liegt vor allem daran, dass man den Zwangscharak- ter, den Schule unvermeidbar auch besitzt, einfach leug- net. Und dieser Zwang hat mit der Gegebenheit zu tun, dass Schule nicht etwas Natürliches ist – die Menschheit hat sie lange nicht gebraucht –, sondern dass sie eine kul- türliche Erfindung darstellt, die aus der Idee eines verfrüh- ten Lernens resultiert. Schüler werden in einem frühen Le- bensalter mit Dingen konfrontiert, wovon die meisten für sie, wenn überhaupt, erst in einem späteren Lebensalter an Bedeutung gewinnen. In ihrem kindlichen Lebensbereich besitzen sie kaum einen Stellenwert. Motivation als Gefühl aber basiert auf einer unmittelbaren Kosten-Nutzen- Kal- kulation in gegenwärtigen Zeit- und Handlungsräumen und da spielt ein Wissen über ferne Länder oder abstrakte physikalische Theorien kaum eine Rolle. Motivation ist ge- bunden an ein Hier und Jetzt und wird immer schwieriger, wenn sie sich auf ein Dann und Dort bezieht. Das aber ist in der Schule in der Regel der Fall, weshalb nicht von einer hohen Lernmotivation ausgegangen werden kann. Das führt zur Frage nach der Herstellung von Lernbereitschaft und damit zwangsläufig zur Rolle und Funktion des Leh- rers. Der Computer kann Tafelbilder, Lehrbücher oder Kar- ten ersetzen, die den lehrerzentrierten Unterricht traditio- nell vervollständigen. Aber es ist unschwer erkennbar, dass der Computer die motivationale Rolle des Lehrers, der Stoffe lebendig aufbereiten und ihre lebensnahen Be- >>

Kurzvita Prof. Dr. Dieter Neumann

Leitartikel

Der Einsatz von digitalen Medien kann ja überhaupt nur im Sektor der Präsentation von Unterrichtsstoffen wirksam werden, also dort, wo traditionell der Lehrervortrag und das Lehrbuch ihren Stellenwert besitzen. In die Grund- struktur des biologischen Lernvorgangs selbst kann kein technisches Gerät optimierend eingreifen. Insofern gibt es auch durch Digitalisierung kein revolutionär neues Lernen. Und ob im Bereich der Präsentation das Mittel des Compu- ters die traditionellen Mittel übersteigt, kann aus den ge- nannten Gründen bezweifelt werden. Die Idee von der lehrerbefreiten Selbstunterrichtung Mit der Idee vom ’digitalen Klassenzimmer’ verbindet sich häufig auch die von der Reformpädagogik favorisierte Vor- stellung einer lehrerbefreiten Selbstunterrichtung. Nach der soll ein eigenständiges Lernen gefördert und die Rolle des Lehrers reduziert werden. An dessen Stelle sollen zu- nehmend Computerprogramme treten, die ein selbstge- steuertes und selbstbestimmtes Lernen ermöglichen sol- len. Die Bertelsmann-Innovatoren formulieren sogar das Ziel einer von jeder curricularen Vorprägung befreiten Schule. Es soll keine allgemeinen Lehrpläne mehr geben, weil Algorithmen für jeden Schüler dessen eigenes Lern- pensum errechnen, das er dann Tag für Tag abarbeiten soll. Das entspräche einer radikalen Auflösung kollektiver Un- terrichtsstrukturen und, wenn man so will, einer Rückkehr zum Hauslehrerprinzip, aber ohne einen menschlichen Lehrer. Das finden nicht nur die Befürworter integrierter Schulsysteme und heterogener Klassenzusammensetzun- gen attraktiv, weil so das persönliche Lerntempo und der Professur für Allgemeine Pädagogik an der Leuphana Universität in Lüneburg mit den Forschungsschwer- punkten ’Theorie- und Ideengeschichte der Pädago- gik’ sowie ’Evolutionäre Anthropologie’. Jetziger Sta- tus: Emeritierter Professor. Zahlreiche Publikationen in den führenden Zeitschriften des Faches. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Phi- lologenverbandes sowie langjähriges Mitglied des Beirates des Deutschen Realschullehrerverbandes.

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SCHULE

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