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Seite 5

Bildung-REPORT

Während Legasthenie sowohl

eine genetische Disposition haben,

als auch auf bestimmte Fehlfunktio-

nen des Gehirns zurückzuführen sein

kann, ist Analphabetismus nicht ver-

erbbar.

Allerdings muss hier gleich eine Ein-

schränkung gemacht werden: Analphabetis-

mus ist zwar nicht genetisch, wohl aber sozial

„vererbbar“. Darin sind sich Experten einig

und dies wird auch in verschiedenen interna-

tionalen Studien übereinstimmend belegt:

So kommen eine niederländische und

eine britische Studie zu den Schlussfolgerun-

gen, dass Kinder aus armen Familien eher

Entwicklungsverzögerungen und gesundheit-

liche Beeinträchtigungen vorweisen. In der

niederländischen Studie („Stil vermogen“)

zeigt sich ein direkter Zusammenhang zwi-

schen hoher schriftsprachlicher Kompetenz

und einem besseren Gesundheitsstatus.

Auch das Gespräch mit einer Lehrkraft

an einer staatlichen bayerischen Förderschule

bestätigt diese These: Die meisten Kinder mit

einem niedrigen bis sehr niedrigen Niveau in

der Literalität – gleichzusetzen mit den Al-

pha-Gruppen 1 bis 3 – haben erhebliche fein-

motorische Einschränkungen. Dies kann sich

z. B. bei Alltagstätigkeiten wie beim Schuhe-

binden zeigen – aber auch beim Schreiben.

Fehlt die feinmotorische Fähigkeit, einen Stift

zu führen, verlieren die Kinder aufgrund

ihrer Misserfolge die Lust am Schreibenler-

nen. Und wer die Lust am Schreiben verliert,

der verliert auch die Lust am Lesen – und

umgekehrt. Diesen Schülerinnen und Schü-

lern ist der Weg in die berufliche Zukunft

bereits vorgezeichnet, weiß die Lehrkraft zu

berichten: Als ungelernte Arbeitskräfte für

einfache Tätigkeiten werden sie wohl ins

Berufsleben starten. Ausnahmen sind eben

diese Schülerinnen und Schüler, die sich ohne

ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten

bis zur Mittleren Reife oder durch das Abitur

„mogeln“.

Besonders gefährdet, Analphabeten zu

werden, sind gerade Kinder von Eltern mit

einem niedrigen Bildungslevel. In diesen Fa-

milien wird eher Wert auf ein schnelles Ver-

lassen der Schule und das Geldverdienen ge-

legt als auf ein höheres Bildungsniveau. Eine

der Ursachen ist hier sicherlich in den fehlen-

den finanziellen Ressourcen zu suchen, die

der nächsten Generation eine umfassendere

Schulbildung ermöglichen oder zumindest er-

leichtern könnte.

Der Mensch ist visuell orientiert. Aus Bil-

dern Schlüsse zu ziehen und Handlungswei-

sen abzuleiten, ist ein Urinstinkt, eine Grund-

kompetenz des Menschen. Das hat ihm das

Überleben gesichert. Schreiben und Lesen

sind keine Instinkte, sondern erlernbare

Kompetenzen. Daher wird in der Werbung

auch in erster Linie mit Bildern gearbeitet, die

Reize auslösen oder zu einer bestimmten

Handlungsweise führen sollen. Eine reine

textbasierte Werbung setzt zunächst ein Er-

fassen und Verstehen der Textinhalte voraus,

bevor es zu einer Handlung kommen kann.

Soviel Zeit hat Werbung nicht, und soviel

Zeit wird Werbung üblicherweise auch nur

selten gewidmet.

Der technische Fortschritt macht es An-

alphabeten übrigens immer leichter, ihre Ein-

schränkungen zu verbergen. Das moderne

Smartphone mit Spracherkennung macht die

Fähigkeit, Schreiben zu können ebenso über-

flüssig wie das Navigationssystem, das mit

seiner Sprachausgabe das klassische Karten-

material verdrängt hat.

Die „SMS- und What’sApp-Sprache“ mit

einem Trend zur Abkürzung und Drei-Wort-

Sätzen tragen ebenfalls nicht gerade zu einer

Förderung des Sprachniveaus bei. Und die

automatische Wortvervollständigung hilft zu-

mindest jenen, die zu den Alphagruppen über

2 oder 3 gehören.

In einem Rundfunkinterview berichtet

der Pädagoge eines Alphabetisierungskurses,

dass einer seiner Schüler sogar einen eigenen

Facebook-Account hatte. Und was hat er

dort gepostet? „Hi“ war sein Standardwort.

Und wenn ein anderer auf seiner Seite etwas

gepostet hat – was dann? „Ich habe mit ,Hi’

geantwortet – oder auch einfach mal ein Foto

eingestellt“.

Die Angst, „entdeckt“ zu werden, lässt

Analphabeten immer neue Strategien entwi-

ckeln: „Ich habe meine Brille vergessen“,

„Ich lese mir das zuhause durch“, „Ich habe

mir leider die Hand verstaucht“ oder „Ich

fülle das später aus“ sind die häufigsten Aus-

reden, mit denen Analphabeten mehr oder

weniger gut durchs Leben kommen.

Allerdings ist auch ein anderes Ergebnis

der zahlreichen internationalen Studien ein-

deutig: Menschen mit einem niedrigen Litera-

litätsniveau sind selten Mitglieder in Vereinen

und Gemeinschaften und gehen eher nicht zu

Wahlen – auch wieder aus Angst vor Entde-

ckung und Bloßstellung. Mit der Aussage:

„Ich nehme am Leben nicht mehr teil“,

bringt es ein Betroffener auf den Punkt.

Die Bereitschaft, die Situation zu ändern,

ist offenbar gering. Nur etwa 0,3% der funk-

tionalen Analphabeten nehmen an Alphabeti-

sierungskursen, wie sie z. B. durch Volks-

hochschulen kostenlos angeboten werden,

teil.

20 Jahre aktuell

Analphabe-

tismus

ist

nicht

biologisch

„vererbbar“.

Vielmehr

sprechen

Experten

von

einer

„sozialen

Vererbbar-

keit“.

Nix verstehen?

Ursachenforschung: Analphabetismus ist nicht biologisch vererbbar