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Zeit nicht mit etwas Unnützemwie Lesen verschwenden, wenn ich doch etwas für die Gemeinde tun kann.» Und dann war da noch immer dieser Ausblick vom Ge- meindehaus. «Überall Schlamm und riesige Felsbrocken. Das jedenTag wie- der ansehen zu müssen, war belastend.» Trotzdem: Überfordert habe sie sich in all den Wochen und Monaten nie gefühlt – nur gefordert. «Erst in Extremsituatio- nen wird einem bewusst, wie viel man leisten kann.» Kraft habe ihr in dieser schwierigen Zeit die Familie und die Gemeindemitarbei- tenden sowie die grosse Solidarität der Schweizer Bevölkerung und die rasche Unterstützung der Politik aus Chur und Bern gegeben. Innerhalb weniger Mo- nate kamen rund 14 Millionen Franken an Spendengeldern zusammen.Verwen- det wird das Geld für die betroffene Be- völkerung und den Wiederaufbau, des- sen Gesamtkosten sich laut Anna Giacometti auf 23 Millionen Franken belaufen: «Davon müssen wir als Ge- meinde 6,9 Millionen Franken selber bezahlen.» Das Projekt «Wiederaufbau» ist als Wettbewerb ausgeschrieben und soll bis Ende 2019 entschieden werden. «Ich bin froh, dass es vorwärtsgeht und endlich wieder etwas Ruhe in unsere Ge- meinde einkehrt.» Von der Schweizer Botschaft in Lissabon nach Mailand und ins Bergell Anna Giacometti ist eine Bergellerin durch und durch. In der abgelegenen italienisch-bündnerischen Talschaft ge- boren und aufgewachsen, kehrte sie nach einem Abstecher ins Ausland in jungen Jahren zurück in ihre Heimat. «Die meisten Jungen verlassen dasTal, aber nur wenige kommen wie ich wieder zurück.» Anna Giacometti zog es nach der obligatorischen Schulzeit ins Lyceum Alpinum nach Zuoz, wo sie die Handels- schule besuchte. Nach einem Au-pair- Jahr in England und zwei Jahren als Sekretärin in der Krankenpflegeschule in Chur bewarb sie sich für den konsulari- schen Dienst beim EDA. Sie bestand die Prüfung und kam in die Schweizer Bot- schaft nach Lissabon (P). «Eine fantasti- sche Zeit in einer wunderschönen Stadt», schwärmt sie noch heute. «Ich war 22 Jahre alt und viel unterwegs. Ich hatte eine Wohnung, eine Putzfrau und einen tollen Job.» Knapp zwei Jahre blieb sie in Portugals Hauptstadt, dann wurde sie ins General- konsulat nach Mailand versetzt – «we- gen des Italienisch». Dort aber gefiel es ihr gar nicht: zu gross, zu laut, zu grau war die Stadt für sie. Das einzig Positive: die Nähe zu «ihrem»Tal. So fuhr sie fast jedes Wochenende mit ihrem roten Golf

Blick von Promotogno über das Auffangbecken nach Bondo: Die Gesamt- kosten für denWiederaufbau von Bondo belaufen sich laut Anna Giacometti auf 23 Millionen Franken. Bild: Marion Loher

die rund 130 Kilometer lange Strecke von Mailand ins Bergell. Sie verliebte sich neu in ihre alte Heimat – und in ih- ren Jugendfreund. Nach zwei Jahren Mailand – «und keinem einzigenTag län- ger» – zog sie 26-jährig zu ihrem heuti- gen Lebenspartner und Vater ihrer bei- den Söhne und wurde Bäuerin. Weniger Geduld für Kleinigkeiten In die Politik sei sie «reingerutscht», sagt sie, die nebst dem örtlichen Dialekt, der eine Mischung aus lombardisch und rätoromanisch ist, vier Sprachen spricht und zwei weitere versteht. Zunächst war sie Aktuarin im Gemeinderat, dann ver- trat sie den Gemeinderat im Regional- verband Bregaglia und schliesslich prä- sidierte sie den Verband. In dieser Funktion koordinierte Anna Giacometti die Fusion der fünf Gemeinden Casta- segna, Soglio, Bondo, Stampa undVico- soprano zur Gemeinde Bregaglia und wurde dann, 2010, zur ersten Präsidentin der neuen Grossgemeinde gewählt. In- zwischen ist die FDP-Politikerin in ihrer dritten Amtszeit. Ihr Pensum hat sie auf Ende 2018 wieder auf 70 Prozent redu- ziert. Ihr Lohn: 95000 Franken. Ob sie bei den diesjährigen Wahlen für eine vierte Legislatur antritt, hat sie noch nicht ent- schieden. «Ich bin hin- und hergerissen», gibt sie offen zu. «Denn eigentlich wären zehn Jahre genug, für mich und die Ge- meinde, und frischer Wind täte gut.» Aber, fügt sie an – und da kommt der Bergsturz vom August 2017 wieder ins Spiel – , beimWiederaufbau wären ihre Kenntnisse und Erfahrungen enorm

wichtig. Wie hat sie das Unglück verän- dert? «Ich bin ungeduldiger geworden, habe weniger Verständnis für Lappa- lien.» Eine andere politische Entscheidung hat die 57-Jährige bereits getroffen: Sie tritt im Oktober 2019 bei den Nationalrats- wahlen an und will für die FDP Graubün- den den 2011 verlorenen Sitz in Bern zurückerobern.

Marion Loher

Steckbrief Anna Giacometti (57) ist seit 2010 Ge- meindepräsidentin von Bregaglia. Zuvor präsidierte sie den Regional- verband Bregaglia und war massgeb- lich an der Fusion der fünf Gemein- den zur Grossgemeinde Bregaglia beteiligt. Die FDP-Politikerin ist stell- vertretendeVorsitzende der Präsiden- tenkonferenz und Mitglied der Kul- turförderungskommission der Region Maloja. Ihr Pensum als Präsidentin der Grossgemeinde beträgt 70 Pro- zent, ihr Lohn 95000 Franken. Mütterlicherseits ist sie mit dem be- rühmten Bildhauer Alberto Giaco- metti verwandt, väterlicherseits mit dem Maler Augusto Giacometti.

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SCHWEIZER GEMEINDE 4 l 2019

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