normal magazin nummer18 sommer

Obwohl das Herrenhaus ziemlich majestätisch am Strassenrand in Grafenort steht, fahren die Reisenden mit dem Ziel Engelberg meist beachtungslos daran vorbei. Travellers heading to Engelberg tend to rush past Grafenort manor without a second glance, despite its gorgeous aspect.

Seit 1995 wird dem Herrenhaus wieder Leben eingehaucht. Since 1995, the manor house has been infused with new life.

Aus demDornröschenschlaf erwacht Grafenort awakens from its slumber Text: Michèle Fröhlich, Transhelvetica Magazin, Fotos: zVg

Einst wurde Ware ein- und ausgeführt, Gäste ruhten sich ein letztes Mal vor dem Aufstieg nach Engelberg aus und Mönche genossen den Freiraum für Gespräche – doch dann ist es ruhig in und ums Herrenhaus in Grafenort geworden. Ziemlich majestätisch steht es da, direkt am Bahnhof, in Gesellschaft zweier Bauernhöfe, einer Kapelle und eines Wirtshauses – und doch scheint das Herrenhaus in Grafenort unsichtbar. Reisende rauschen mit dem Auto oder mit dem Zug daran vorbei, vorfreudig auf die sonnigen Berge, die steil ins Tal abfallen. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, hier im schattigen Tal auszusteigen und den Weg nach Engel- berg zu Fuss zurückzulegen. Das war einmal anders. Einst zog eine Karawane von Rindern und Klostersäu- mern mit Käse im Gepäck über den Gotthard und kehrte von Mailand mit Fässern voll Wein und Öl und Säcken voll Reis und Salz zurück nach Grafenort. Kutschen fuhren durch die grossen Tore direkt ins Herrenhaus und luden die Ware ab. Korn, Reis und Salz hievten die Säumer durch die Luke in den Dachstock. Em- siges Treiben und frohe Stimmen belebten die Gemäuer. Denn in Grafenort war Endstation. Der breite Weg, der mit der Kutsche befahren werden konnte, wurde von einem schmalen Saumpfad abgelöst. Hier musste auf die Saumtiere umge- sattelt werden, um die Ware nach Engelberg zu transportieren. Als der klösterliche Käse- und Viehandel ausgebaut wurde, genügte das alte Steinhaus nicht mehr als Lager und Abt Ignaz Burnott gab 1690 das Herrenhaus in Auftrag. Der Nutzung wegen wurde der Dach- stock das Prachtstück des Hauses; die Hälfte der Gesamthöhe des Gebäudes macht er aus. Lange kann man hier verharren und ob der Zimmer- mannskunst und den Schnitzereien an den acht

Hängepfosten staunen. Etagen tiefer ist es, als betrete man eine andere Welt. Hier wurde gelebt. Wand- und Deckenmalereien mit dem Wappen des Klosters Engelberg, aber auch Szenen aus der Mythologie zieren die Zimmer. Kachel- öfen zeugen von gemütlichem Zusammensein. Schliesslich diente das Herrenhaus nicht nur als Warenlager, sondern auch als Talresidenz des Abtes und des Konventes – sogar Asylsuchende fanden während des Bürger- und Religionskrie- ges Anfang des 18. Jahrhunderts Unterschlupf. Und die Fehde um die Grenze zwischen dem Klosterstaat Engelberg und seinem Nachbarn Nidwalden wurde öfters im Herrenhaus ausgehandelt. Heute gönnen sich in den Sommermonaten nur noch wenige Mönche eine Auszeit vom Klosteralltag. Wo die Räume einmal mit Leben gefüllt waren, ist fast schon beunruhigende Ruhe eingekehrt. Tritt man heute über die Schwelle, knarrt vielleicht hie und da das Holz unter den Füssen oder im Dachstock flattert eine Fleder- maus von einem Gebälk zum nächsten – sonst bleibt’s ruhig. Als Engelberg durch den Ausbau der Strasse und Bahnlinie Ende des 19. Jahrhun- derts besser erreichbar wurde, verlor Grafen- ort seine Bedeutung als Umschlagsplatz. Das Kloster überliess das Haus seinem Schicksal, bis 1995 der Obwaldner Alt-Kantonsoberförster Leo Lienert und die Stiftung «Lebensraum Gebir- ge» dem Zerfall ein Ende setzten – zum Glück! Das Haus wurde saniert und restauriert. Und allmählich wird den Räumen wieder Leben eingehaucht, wenn von Zeit zu Zeit Seminare und Matinées stattfinden oder ganze Hochzeits- gesellschaften ihre Feste feiern. So scheint es, als hätten die umliegenden Berge eine schüt- zende Hand über das Tor zu Engelberg gehal- ten – bis es seine neue Aufgabe gefunden hat.

Seit der Sanierung füllt sich das Herrenhaus wieder mit Leben.

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