Fortbildung aktuell [ Das Journal ] 4/2017

CHAOS IM KINDERZIMMER

Chaos im Kinderzimmer Adhärenz bei Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 1

Die Therapietreue sollte nicht nur bei Senioren und Patienten, die vie- le Arzneimittel einnehmen müssen, überprüft und optimiert werden, auch Kinder und Jugendliche profi- tieren hiervon! Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammen- hang, das Therapieverständnis und die Therapietreue junger Patienten mit chronischen Erkrankungen zu fördern, da sie oft lebenslang mit der Erkrankung und deren Behand- lung konfrontiert sind. Werden entsprechende Weichen nicht früh gestellt, kann die Einstellung zur Krankheit und der Umgang mit ihr nur schwer in späteren Lebensjah- ren erlernt werden. Mitunter wird durch eine schlechte Kontrolle der Erkrankung in der Kindheit und Ju- gend auch der Weg für irreparable Folgeschäden geebnet. In Deutschland leben derzeit ca. 30.000 Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus Typ 1 (T1DM). Auf sie treffen in besonderem Maße die oben genann- ten Feststellungen zur Dringlichkeit der frühen Weichenstellung zu, denn junge Diabetiker haben noch ein langes Leben vor sich. Bei schlechter glykämischer und metabolischer Kontrolle drohen akute Komplikationen, wie schwere Hypoglyk- ämien und diabetische Ketoazidose. Wird die Therapie aber über Jahre nicht gut ein- gehalten, können zudem mikro- und ma- krovaskuläre Langzeitschäden, wie eine diabetische Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie resultieren. Insbeson- dere Jugendliche gelten als Risikopatien- ten in der Diabetestherapie und werden häufiger als Patienten anderer Alters- gruppen mit Komplikationen in ein Kran- kenhaus aufgenommen. Der Grund: Ihr Blutzucker ist aufgrund physiologischer Veränderungen in der Pubertät aber vor allem auch durch eine wesentliche psy- chosoziale Komponente, das jugendliche Autonomiestreben, schwer einzustellen. Krankheit ohne Auszeit

Dr. Verena Stahl (Herdecke) ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landes- weiten Drug Information & Pharmacy Resource Center ausgebildet. Außerdem: berufsbegleitende Dissertation zu einem Thema der AMTS, freiberufliche Tätigkeit u. a. als Autorin für die DAZ und als Referentin für diverse Apothe- kerkammern.

Dr. Verena Stahl

Zu den physiologischen Veränderun- gen zählen z. B. verstärkte Stress- und Wachstumshormonausschüttung, letzte- re erhöhen insbesondere die morgendli- chen Blutzuckerwerte (auch bekannt als Dawn-Phänomen), aber auch verstärkte Sexualhormonausschüttung, welche die Insulinempfindlichkeit senken. Proble- matisch ist in diesem Lebensabschnitt auch, dass Jugendliche ein verändertes und unregelmäßiges Ess- und Schlafver- halten zeigen, auch treten Essstörungen unter (meist weiblichen) jugendlichen Di- abetikern gehäuft auf. 1 Im Streben nach Unabhängigkeit vernachlässigen viele Heranwachsende ihre Therapie, z. B. in- dem sie nicht mehr zuverlässig Blutzucker messen, Insulineinheiten „Pi mal Daumen“ spritzen oder gar Verweigerungsversu- che gegen den unsichtbaren Feind – oder übertragen auf die Eltern – unternehmen. Die Akzeptanz der Erkrankung und ihrer Therapie ist in diesem Lebensabschnitt besonders problematisch. Auch wollen Jugendliche nicht krankheits- oder thera- piebedingt aus ihrem Freundeskreis aus- geschlossen werden, wollen auch einmal feiern gehen oder auswärts übernachten, jedoch können sie sich die Flexibilität der Gleichaltrigen in puncto Lebensstil (bei- spielsweise bzgl. Mahlzeiten, Alkoholkon- sum) nicht erlauben. Ihren Alltag diktiert der Diabetes.

Anforderungen an die Adhärenz

Bei intensivierter Insulintherapie wird den Patienten tagtäglich viel abverlangt. The- rapietreue bedeutet hier – bedingt durch die Komplexität der Erkrankung und der Therapie – wesentlich mehr als nur die korrekte Einnahme von Arzneimitteln: • 4- bis 6-mal am Tag Blutzucker messen und dokumentieren, • 4- bis 5-mal am Tag Insulin spritzen, • 3-mal am Tag Brot- oder Kohlenhydrat- einheiten zählen, • gezielt Zwischenmahlzeiten einneh- men, auch wenn man nicht hungrig ist Dies entspricht ca. 5.000 Interventionen pro Jahr, in denen der jugendliche Patient mit seiner Erkrankung konfrontiert ist. Belastend kommt hinzu, dass Blutzucker- messungen und Insulin spritzen oft in der Öffentlichkeit (Schule) oder in unpassen- den Situationen durchzuführen sind. Eine Diabetestherapie ist aber eben- so wenig starr wie die zugrundeliegende Erkrankung und der eigene Tagesablauf: ständig muss das Verhalten reflektiert und angepasst werden, d. h., es müssen stets Entscheidungen getroffen wer- den, zum Beispiel zur Dosisanpassung bei sportlichen Aktivitäten, infolge ei- nes abweichenden Essverhaltens oder

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