Fortbildung aktuell [ Das Journal ] 4/2017

Fortbildung aktuell [ Das Journal ] 4/2017

04 · 2017 [ D a s J o u r n a l ]

Über ein Mehr an AMTS in der Apotheke, die Adhärenz bei Jugendlichen mit Diabetes und motivierende Gesprächsführung

Seite 5 CIRS-Pharmazie NRW Seite 12 Chaos im Kinderzimmer Seite 17 Darf es ein bisschen mehr sein?

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EDITORIAL

Editorial

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor Ihnen liegt die zweite Ausgabe unseres Fortbildungsjournals im Jahr 2017mit drei interessanten Aufsätzen von vier Autoren. Imersten Artikel „Mehr Arzneimitteltherapiesicherheit in der Apotheke“ beleuchtet Anna- belle Heiming (Münster) praxisnah das Fehlerberichts- und Lernsystem CIRS-Pharmazie NRW anhand von Fallbeispielen. Durch die systemati- sche Aufarbeitung von Fehlern und Beinahe-Medikationsfehlern können Sicherheitslücken im System aufgedeckt und reduziert werden. Somit liefert CIRS einen Beitrag zur Patientensicherheit. Dr. Verena Stahl (Herdecke) befasst sich in ihrem Aufsatz „Chaos im Kinderzimmer“ mit der Adhärenz bei Jugendlichen mit Diabetes melli- tus Typ 1. Hier veranschaulicht die Autorin am Beispiel junger Patien- ten mit chronischen Erkrankungen, dass bei dieser Patientengruppe die Therapietreue genauso überprüft werden sollte wie bei Senioren und Patienten, die viele Arzneimittel einnehmen müssen. Durch eine gute Adhärenz, ein Therapieverständnis und Kontrolle der Krankheit bereits in der Jugend können irreparable Folgeschäden vermieden werden. Im dritten Aufsatz „Darf es ein bisschen mehr sein?“ zeigen Christine Weber (Bochum) und Christian Schulz (Hiddenhausen), wie mit Hilfe der „Motivierenden Gesprächsführung (MI)“ auch schwierige Fälle gut gemeistert werden können. Die MI ist eine therapiestützende Kommu- nikationsform und besteht aus vielen einzelnen Aspekten, die in kleinen Schritten geübt und entwickelt werden können. Sie eignet sich beispiels- weise, um Patienten erfolgreich zu einer Verhaltensänderung anzuleiten. Mit der MI bietet sich ein Weg an, diese Fähigkeit zu erweitern und zu verfeinern, was zu mehr Freude und Erfolgserlebnissen in der täglichen Arbeit führt.

Gabriele Regina Overwiening Präsidentin der Apotheker- kammer Westfalen-Lippe

René Graf Vizepräsident der Apotheker- kammer Westfalen-Lippe

Impressum

„Fortbildung aktuell“ der Apothekerkammer Westfalen-Lippe, erscheint zweimal jährlich als „Fortbildung aktuell – Themen & Termine“ und zweimal pro Jahr als „Fortbildung aktuell – Das Journal“ Herausgeber: Apothekerkammer Westfalen-Lippe Bismarckallee 25 · 48151 Münster Tel.: 0251 520050 · Fax: 0251 52005-69 E-Mail: info@akwl.de · Internet: www.akwl.de

Redaktion/Grafiken: Dr. Sylvia Prinz

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen, Lernen und Punkten!

Layout: Sebastian Sokolowski

Autoren dieser Ausgabe: Annabelle Heiming, Dr. Verena Stahl, Christine Weber, Christian Schulz

Mit freundlichen, kollegialen Grüßen

Titelfoto: Mediteraneo – fotolia.com

Der Bezugspreis für „Fortbildung aktuell – Themen & Termine“ und „Fortbildung aktuell – Das Jour- nal“ ist für die Mitglieder der Apothekerkammer Westfalen-Lippe im Kammerbeitrag enthalten.

Ihre Gabriele Regina Overwiening

René Graf

Auflage: 7.800 Exemplare

Nachdruck – auch in Auszügen – nur mit schriftli- cher Genehmigung des Herausgebers. Gedruckt auf Papier aus 100 Prozent recycelten Fasern. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.

AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal /  3

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ANNABELLE HEIMING

Mehr Arzneimitteltherapiesicherheit in der Apotheke Fehlerberichts- und Lernsystem CIRS-Pharmazie NRW

Bei der Abgabe von Arzneimitteln können Fehler passieren, die mitun- ter schwerwiegende Folgen für den Patienten haben. So kann es zu le- bensbedrohlichen Folgen kommen, wenn ein Kind einen Hustenreizstil- ler in viel zu hoher Dosierung erhält ( Abbildung 1) , wie im Fehlerbe- richts- und Lernsystem CIRS-Phar- mazie NRW in einem Fall beschrie- ben wird: Fall-Nr. 157819 – Massive Überdo- sierung eines Antitussivums Was ist passiert? Hustenreizstiller-Tropfen wurden für ein Kleinkind verordnet und vom Arzt ist ver- sehentlich die Dosierung des ebenfalls ver- schriebenen Antibiotikumsaftes verordnet worden. Der Apothekenmitarbeiter hat die 50-fach zu hohe Dosierung auf der Pa- ckung notiert. Was war das Ergebnis? Das Kind wurde auf die Intensivstation eingeliefert und hat glücklicherweise überlebt.

Annabelle Heiming (Münster) arbeitet als Apothekerin bei der Apothekerkammer Westfalen-Lippe in den Abtei­ lungen „Fortbildung“ und „Pharmazeutische Praxis“.

Annabelle Heiming

Apothekenmitarbeiter hätte hinterfragen müssen, ob die Dosierung plausibel und therapeutisch üblich ist. Da Medikationsfehler immer wieder auftreten, stellt sich die Frage, wie sie reduziert werden können. Um Medika­ tionsfehler und kritische Ereignisse zu vermeiden und damit eine höhere Patien- tensicherheit zu schaffen, sind Maßnah- men zur Gewährleistung einer möglichst sicheren Arzneimitteltherapie wichtig. Wie können die Mitarbeiter in der Apotheke zu mehr Patientensicherheit beitragen? Medikationsfehler können in der Apothe- ke verhindert werden. Wenn Medikati- onsfehler beispielsweise in der Arztpraxis oder durch den Patienten entstehen, dann kann die Apotheke als Sicherheitsbarriere fungieren, den Medikationsfehler abfan- gen und so das Eintreten eines kritischen Ereignisses verhindern. Die Apotheke stellt damit ein wichtiges Glied im Rah- men des Medikationsprozesses dar. Der englische Psychologe James Re- ason beschreibt die Entstehung von kri- tischen Ereignissen sehr anschaulich in seinem „Schweizer-Käse-Modell“ (Abbil- dung 2): Normalerweise gibt es innerhalb Die Apotheke als Sicherheitsbarriere

Wo sehen Sie Gründe für das Ereignis? Hektik, Stress, blindes Übernehmen der Arztanweisung

Kam der Patient zu Schaden? Passagerer Schaden: schwer Wer berichtet? Apotheker/Apothekerin

Im vorliegenden Fall kam es an zwei Stellen im Medikationsprozess zu einem Medikationsfehler: Der erste Fehler lag bei der Rezeptierung des Arztes. Der zweite Fehler trat im Rahmen der inhalt- lichen Prüfung der Verordnung auf. Der

ABBILDUNG 1: Wenn ein Kind einen Hustenreizstiller in viel zu hoher Dosierung erhält, dann kann das lebensbedrohliche Folgen haben.

Foto: photophonie – Fotolia.com

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MEHR ARZNEIMITTELTHERAPIESICHERHEIT IN DER APOTHEKE

ABBILDUNG 2: Sicherheitsbarrieren und -lücken imMedikationsprozess, modifiziert nach Reason 3

eines Prozesses verschiedene Sicherheits- barrieren, die dazu beitragen, dass keine kritischen Ereignisse eintreten. Tatsächlich können aber auch die einzelnen Sicher- heitsbarrieren Lücken haben (vergleichbar mit den Löchern einer Käsescheibe) und somit als Barriere versagen. Wenn es zu der unglücklichen Situation kommt, dass ein oder mehrere Fehler alle Barrieren pas- sieren, dann kann das unerwünschte und kritische Ereignis eintreten. Unerwünschte Arzneimittelereignisse sind also oft das Ergebnis einer Verkettung von Fehlern im Medikationsprozess und weisen auf Lü- cken im System hin. Das bedeutet aber auch, dass es in einem System eine Reihe von Chancen gibt, um die ungünstigen Entwicklungen aufzuhalten. Wenn der Prozess der Behandlung mit Arzneimitteln so organisiert ist, dass auch „Ein Medikationsfehler ist ein Ab- weichen von dem für den Patienten optimalen Medikationsprozess, das zu einer grundsätzlich vermeidbaren Schädigung des Patienten führt oder führen könnte. Medikationsfehler können von jedem am Medikations- prozess Beteiligten, insbesondere von Ärzten, Apothekern oder anderen An- gehörigen eines Gesundheitsberufes sowie von Patienten, deren Angehöri- gen oder Dritten verursacht werden.“ 1 Medikationsfehler können verschie- dene Schritte des Medikationsprozes- ses betreffen. WAS IST EIN KRITISCHES EREIGNIS? Ein Ereignis, das zu einem uner- wünschten Ereignis führen könnte oder dessen Wahrscheinlichkeit deut- lich erhöht. 2 DER MEDIKATIONSPROZESS Der Medikationsprozess beinhaltet alle Stufen der Arzneimitteltherapie, wie z. B. die Schritte Arzneimittel­ anamnese, Verordnung/Verschreiben, Patienteninformation, Selbstmedika- tion, Verteilung/Abgabe, Anwendung (Applikation/Einnahme), Dokumenta- tion, Therapie, Überwachung/AMTS- Prüfung, Kommunikation/Abstim- mung und Ergebnisbewertung. 1 WAS IST EIN MEDIKATIONS­ FEHLER?

Grafik: Pharmazeutische Zeitung

beim Auftreten von Medikationsfehlern sichergestellt ist, dass diese Fehler erkannt und behoben werden, bevor sie die behan- delten Personen erreichen und diese so ef- fektiv vor vermeidbarer Schädigung durch die Behandlung geschützt werden, dann spricht man von Fehlertoleranz oder Resi- lienz der Arzneimitteltherapie. 5,6 Durch eine Optimierung des Medikati- onsprozesses kann die Arzneimittelthe- rapiesicherheit, welche einen wichtigen Teilbereich der Patientensicherheit dar- stellt, erhöht werden. Die Arzneimittelthe- rapiesicherheit unterscheidet sich von der Arzneimittelsicherheit, bei welcher nur die Sicherheit des Arzneimittels selbst im Fo- kus steht. Sie umfasst den Prozess seiner Anwendung und damit die Risiken, die bei der therapeutischen Anwendung im Me- dikationsprozess von der ärztlichen Ver- ordnungsentscheidung bis zur Einnahme durch den Patienten auftreten. 7 Um unerwünschte Arzneimitteler- eignisse zu vermindern und eine Sicher- heitskultur in Apotheken aufzubauen, sind das Risikobewusstsein und die Bereit- schaft aus Fehlern zu lernen zwei wichti- ge Voraussetzungen. Die Erfassung und Analyse von Medikationsfehlern und Bei- nahe-Medikationsfehlern innerhalb von Patientensicherheit in der Apotheke

Fehlerberichtssystemen können darüber hinaus eine Grundlage für die Entwicklung von Strategien zur Arzneimitteltherapiesi- cherheit bilden.

Entwicklung von Fehlerberichtssystemen im Gesundheitswesen

In Hochrisikobranchen wie der kommer- ziellen Luft- und Seefahrt und der Atom- energie wurde schon früh erkannt, dass

WAS IST ARZNEIMITTEL­ THERAPIESICHERHEIT?

„A r zneimit telt herapiesic herheit (AMTS) ist die Gesamtheit der Maß- nahmen zur Gewährleistung eines optimalen Medikationsprozesses mit dem Ziel, Medikationsfehler und da- mit vermeidbare Risiken für den Pati- enten bei der Arzneimitteltherapie zu verringern.“ 1 Beachte: Arzneimitteltherapiesicher- heit ist nicht das Gleiche wie „das Me- dikationsmanagement, mit dem die gesamte Medikation des Patienten, einschließlich der Selbstmedikation, wiederholt analysiert wird mit den Zielen, die Arzneimitteltherapiesicher- heit und die Therapietreue zu verbes- sern, indem arzneimittelbezogene Pro- bleme erkannt und gelöst werden“. 8

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ANNABELLE HEIMING

papiergestützte Berichterstattungssyste- me zur anonymen Meldung von sicher- heitsrelevanten Ereignissen wie kritische Ereignisse, Fehler, „Beinahe-Fehler“ und Schäden. Häufig wird für Fehlerberichts- systeme die englische Beschreibung „Cri- tical Incident Reporting System“ mit dem Akronym CIRS verwendet. CIRS wurde in Deutschland Mitte der 1990er Jahre, damals noch „papierge- stützt“, durch die Gesellschaft für Risiko- Beratung mbH (GRB) in verschiedenen Krankenhäusern implementiert. Nun wird es weitverbreitet in Einrichtungen der Al- tenhilfe, im Rettungsdienst und in Kran- kenhäusern in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz eingesetzt. Auch die Schweizer Anästhesiologische Vereini- gung entwickelte Mitte der 1990er Jahre ein CIRS, das fortentwickelt wurde und seit dem Jahr 2005 ebenfalls in Deutsch- land als „CIRSmedical.de“ genutzt wird. 13 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab im Jahr 2005 die „WHO Draft for Adverse Event Reporting and Learning Systems“ bekannt, in denen die vier fol- genden Kernprinzipien eines Fehlermel- desystems formuliert werden. 14 • Verbesserung der Patientensicher- heit durch Lernen aus Fehlern des Gesundheitssystems • Sanktionsfreiheit für den Meldenden

die systemische Aufarbeitung von Fehlern und kritischen Ereignissen wertvolle Hin- weise auf Sicherheitslücken im System liefert. 9 Für die Luftfahrt (Abbildung 3) gibt es seit 1975 das vermutlich bekannteste Be- richtssystem „Aviation Safety Reporting System“ (ASRS) von der „Federal Aviation Administration“ in den USA, bei dem alle Piloten, das gesamte Bord- und Boden- personal, Mechaniker und andere in der Luftfahrt beteiligte Personen tatsächlich oder potenziell gefährliche Situationen melden können. 10 Dort werden in bisher über 600.000 Berichten Probleme und Schwachstellen in den Flugsicherheitssys- temen und Sicherheitsprozeduren aufge- zeigt. Durch die Analyse der Berichte kön- nen Sicherheitslücken geschlossen und Verbesserungen eingeführt werden. Die Analyseergebnisse des ASRS dienen auch als Datenbasis für die Entwicklung neuer Richtlinien oder neuer Ausrüstungen in der Luftfahrt. 11 Mittlerweile spielen Fehlerberichts- systeme auch im Gesundheitswesen eine immer wichtigere Rolle. Sie werden als unverzichtbares Element zur dringend erforderlichen Erhöhung der Patientensi- cherheit bewertet. 12 Bei den Fehlerberichtssystemen handelt es sich um internet- oder

GRUNDREGELN FÜR EINE KULTUR DER SICHERHEIT  mod. nach 7 • Offenheit → Nur, wenn man offen mit Fehlern umgeht, kann es gelin- gen die Ursachen zu klären und aus ihnen zu lernen. • No blame → Es geht nicht darum, jemandem die Schuld zu geben, son- dern darum, die Ursache herauszu- finden und Lösungen zu generieren. • Teamansatz → Kritische Ereignisse entstehen oft in einem Prozess mit mehreren Beteiligten. Deshalb gilt es, Fehler im Team zu analysieren. • Systembetrachtung → Normen und Regeln in einem System können eine fehlerbegünstigende oder feh- lervermeidende Wirkung haben. • Prozessanalyse → Der Prozess, in dem der Fehler auftrat, sollte syste- matisch analysiert werden. • Qualitätsmanagement → Die Fehlervermeidung ist Bestand- teil des einrichtungsinternen Qualitätsmanagements. • Fehler berichten und daraus lernen → Es sollte eine Möglichkeit geben, über Fehler und andere ungewöhn- liche Ereignisse zu berichten, bei- spielsweise über ein Fehlerberichts- und Lernsystem.

ABBILDUNG 3: In der Hochrisikobranche Luftfahrt gab es schon seit 1975 das sogenannte „Aviation Safety Reporting System“.

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MEHR ARZNEIMITTELTHERAPIESICHERHEIT IN DER APOTHEKE

ABBILDUNG 4: CIRS-Pharmazie NRW – Ein Fehlerberichts- und Lernsystem für die Apothekerschaft

Durch ihre systematische Analyse können wertvolle Erkenntnisse erzielt werden, die wiederum zur Einleitung von präventiven Maßnahmen, zur Verbesserung organisa- torischer Prozesse und zur Entwicklung von Lösungsstrategien beitragen. Jedes sicherheitsrelevante, kritische Ereignis im Gesundheitssystem kann genutzt wer- den, um die Patientensicherheit in Zu- kunft zu erhöhen. CIRSmedical.de stellt ein Critical Inci- dent Reporting System aus dem Gesund- heitswesen dar. Es ist ein anonymes Be- richts- und Lernsystem der deutschen Ärzteschaft für kritische Ereignisse in der Medizin. Dieses System ist seit 2005 in Betrieb und stellt einen Teil der Quali- tätssicherungsmaßnahmen der Bundes- ärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung dar. Organisiert wird es vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ). Das ÄZQ hat in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit verschiedenen Pro- jektpartnern auch weitere, spezifische Berichtsgruppen eingerichtet, weshalb sich aus der ursprünglichen Berichtsgrup- pe CIRSmedical.de mittlerweile das Netz- werk CIRSmedical.de mit 126 Kliniken und 12 Organisationen des Gesundheitswe- sens gebildet hat. 17 Die Berichte aus den einzelnen CIRS-Gruppen können sowohl in der gemeinsamen Datenbank CIRSme- dical.de als auch in den anderen Daten- banken des CIRSmedical.de-Verbundes veröffentlicht werden. Ein weiteres CIRS aus dem Gesundheits- wesen ist CIRS-Pharmazie NRW (Abbil- dung 4). Eswurde imMai 2016auf gemein- same Initiative der Apothekerkammern Nordrhein (AKNR) und Westfalen-Lippe (AKWL) hin speziell für ApothekerInnen und pharmazeutische Gesundheitsberu- fe in Apotheken gegründet. CIRS-Phar- mazie NRW ist als spezifische Berichts- gruppe an das Netzwerk CIRsmedical.de angeschlossen. Die Arzneimitteltherapie und der Medikationsprozess stellen einen Hoch- risikoprozess dar. Die Mitarbeiter einer Apotheke sind am Medikationsprozess CIRSmedical.de CIRS-Pharmazie NRW

• Meldungen bieten einen Mehrwert, wenn sie zu konstruktiven Reaktionen führen. • Fehlermeldesysteme erfordern Fach- kenntnis sowie personelle und finanzi- elle Ressourcen. Engagierte Vertreter aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens grün- deten 2005 das „Aktionsbündnis Patien- tensicherheit“ (APS). Das Bündnis fördert anhand von Fachexperten und Arbeits- gruppen die wissenschaftliche Forschung zur Verbesserung der Patientensicherheit sowie zur Verminderung von Behand- lungsfehlern, unterstützt praktische Pro- jekte und entwickelt Handlungsempfeh- lungen. Im Jahr 2006 erarbeitete das APS „Empfehlungen zur Einführung von CIRS im Krankenhaus“. Weiterhin unterstützt es das Projekt „CIRSforte“, das 2017 be- gonnen hat. Das Projekt CIRSforte soll der Fortentwicklung von Fehlerberichts- und Lernsystemen (CIRS) für die ambulante Versorgung zu einem implementierungs- reifen System dienen. 15 Nach der „Richtlinie des Gemeinsa- men Bundesausschusses über grundsätz- liche Anforderungen an ein einrichtungs- internes Qualitätsmanagement“, die am 16. November 2016 in Kraft getreten ist, gehören Fehlermeldesysteme auch für Vertragsärzte, Vertragspsychotherapeu- ten, medizinische Versorgungszentren, Vertragszahnärzte sowie zugelassene Krankenhäuser zum Mindeststandard des Risikomanagements. Sie werden als eta- blierte und praxisbezogene Bestandteile des Qualitätsmanagements verstanden und sind als Instrument des Fehlerma- nagements verpflichtend anzuwenden. 16 Die Einführung des CIRS in das Gesund- heitswesen verdeutlicht einen Perspek- tivwechsel im Umgang mit Fehlern und kritischen Ereignissen. Wurden sie vorher verschwiegen und aus Angst vor Konse- quenzen nicht offen zur Sprache gebracht, so sollen sie nun offen dargelegt werden. Dahinter verbirgt sich der Kerngedanke, dass Fehler und kritische Ereignisse auch Lernchancen bieten. 13 Aus Fehlern und kritischen Ereignissen lernen

maßgeblich beteiligt. Zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit bieten Fehlerberichts- und Lernsysteme einen systematischen Ansatz. Das internetgestützte Fehlerberichts- und Lernsystem CIRS-Pharmazie NRW bietet einen relativ niedrigschwelligen Ansatz zur Beschäftigung mit der Arz- neimitteltherapiesicherheit und liefert nichtsdestotrotz einen wichtigen Beitrag zum Risikomanagement in Apotheken. Die Mitarbeiter können hier Medikations- fehler und „Beinahe“-Medikationsfehler der Schnittstellen Arztpraxis, Apotheke und Patient anonymmelden. Seit dem Start imMai 2016 sind etwa 80 Fehlerberichte imCIRS-PharmazieNRW eingegangen (einzusehen unter www. cirs-pharmazie.de). Dokumentiert wurden u. a. Fehler bei der Abgabe von Arzneimit- teln (Rezeptbelieferung und Selbstmedi- kation), im Rahmen der Rezepturherstel- lung, bei ärztlichen Verordnungen, auf Seiten der Patienten sowie bei der Kom- munikation oder Verständigung zwischen den am Medikationsprozess beteiligten Personen. Eine Übersicht der Fehlerberei- che, die im Rahmen einer Auswertung der bisher eingereichten Fallberichte identifi- ziert wurden, zeigt Abbildung 5. Demnach wurde vor allem über Fehler bei der Abga- be von Arzneimitteln und am häufigsten von Fehlern, die innerhalb der Apotheke stattfanden, berichtet. Die eingegangenen Berichte bei CIRS- Pharmazie NRW werden vom CIRS-Team der Apothekerkammer Nordrhein und der Apothekerkammer Westfalen-Lippe zu- erst anonymisiert, dann analysiert, kom- mentiert und am Schluss veröffentlicht. Konkrete Fallbeispiele schaffen das Bewusstsein, „Das könnte genauso auch bei uns passieren“ und vermögen die Beteiligten des Medikationsprozesses zu sensibilisieren, so dass Medikations- fehler unter Umständen gar nicht erst

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ANNABELLE HEIMING

ABBILDUNG 5: Fehlerbereiche, die im Rahmen einer Auswertung der bisher eingereich- ten Fallberichte bei CIRS-Pharmazie NRW identifiziert wurden.

entstehen. Durch die Auseinandersetzung mit Beinahe-Fehlern können wichtige Faktoren erkannt werden, um Fehler zu vermeiden. Der grundsätzlich offene und konstruktive Umgang mit Medikations- fehlern und Beinahe-Medikationsfehlern trägt dazu bei, dass aus diesen gelernt wird und Sicherheitsbarrieren, präventi- ve Maßnahmen sowie Lösungen entwi- ckelt und umgesetzt werden. So können alle Mitarbeiter der Apotheken zu mehr Sicherheit bei der Arzneimitteltherapie beitragen. WAS KANN ICH AB MORGEN UMSETZEN, WORAUF KANN ICH AB MORGEN ACHTEN? • Sicherheitsrelevante Fehler und Bei- nahe-Medikationsfehler melde ich anonym bei CIRS-Pharmazie NRW, damit auch andere daraus lernen können. • Einzelne Schritte im Medikati- onsprozess versuche ich zu opti- mieren, wie z. B. die Lagerung von Arzneimitteln, die Prüfung der Verordnung oder die Beratung des Patienten. • Bei Fehlern stelle ich mir selbst die Frage: „Was kann ich tun, damit der Fehler in Zukunft nicht mehr passiert?“. Das heißt, dass ich das Wissen über einen Fehler oder einen Beinahe-Fehler nutze, um beispiels- weise in meinem eigenen Umfeld präventive Maßnahmen einzulei- ten und neue Sicherheitsbarrieren zu etablieren. • Ich mache mir bewusst, welche Pro- zesse gut funktionieren und sorge dafür, dass gute Prozesse, Maßnah- men und Lösungen erhalten bleiben.

erfolgen müssen, ob die Medikamente auch den verordneten Arzneimitteln laut Fax entsprechen. Der Patient ist neben seinen leichten körperlichen Beeinträchti- gungen, die mit der Zeit nachließen, sehr verunsichert. Kam der Patient zu Schaden? Passagerer Schaden: leicht bis mittel Wer berichtet? Pflege-, Praxispersonal An der Schnittstelle Apotheke-Patient kam es vermutlich zu einem Abgabefeh- ler aufgrund der Verwechslung zweier ähnlich klingender Arzneimittel. Die Ver- wechslungsgefahr bei ähnlich klingenden oder ähnlich aussehenden Arzneimitteln, sogenannter „Sound-alike Drugs“ bzw. „Look-alike Drugs“, stellt eine häufige Feh- lerquelle im Medikationsprozess dar. Si- cherheitsempfehlungen zur Vermeidung von „Look-alike-sound-alike“ (LASA)-Medi- kamenten wurden durch die Weltgesund- heitsorganisation (WHO) und die Joint Commission International erarbeitet. 17 Das Problem der Verwechslungsgefahr wird auch durch das Vorhandensein einer Viel- zahl von unterschiedlich benannten und verpackten Generika gleichen Wirkstoffs verstärkt, deren Namen sich auch die Pati- enten oft nicht merken können. Kurzanalyse Fall-Nr. 144789

stellte sich heraus, dass dem Patienten in der Apotheke nicht Omeprazol sondern Opipramol ausgehändigt wurde. Dieses hat der Patient jedes Mal, wenn er Reflux hatte, eingenommen. Das Rezept war je- doch auf Omeprazol ausgestellt. Warum und weshalb es hier zu einer Verwechse- lung gekommen ist, kann die Arztpraxis zurzeit nicht beurteilen. Was war das Ergebnis? Der Patient kam noch zwei weitere Male in die Sprechstunde und berichtete von Abgeschlagenheit und extremer Mü- digkeit. Ein Grund konnte hierfür zuerst nicht ermittelt werden. Eine Blutuntersu- chung war unauffällig. Der Patient nahm aufgrund einer Zwangsstörung ebenfalls Paroxetin ein. Die Abgeschlagenheit wur- de erstmal mit der damaligen erhöhten Nachtschichtarbeit des Patienten asso- ziiert. Beim zweiten Besuch stellte sich heraus, dass vom Patienten ein völlig an- deres Medikament eingenommen wurde. Aufgrund der bedarfsweisen Einnahme des PPI wurde wahrscheinlich ein größerer Schaden vermieden. Wo sehen Sie Gründe für das Ereignis? Gründe liegen wohl darin, dass das Re- zept zuerst fernmündlich, dann per Fax (Kopie der Verordnung) und erst am Tag nach Ausstellung im Original an die Apo- theke übermittelt wurde. Offensichtlich wurden hier ähnliche Handelsnamen ver- wechselt. Nach Bereitstellung der Medi- kamente hätte ein „Vier-Augen- Prinzip“

Fallberichte aus CIRS-Pharmazie NRW

Fall-Nr. 144789: Ich sehe was, was du nicht schreibst

Was ist passiert? Einem Patienten mit Reflux wurde über einige Jahre regelmäßig ein Protonen- pumpenhemmer (PPI) verordnet. Nach einem Arztwechsel wurde ihm bei seinem ersten Besuch in der neuen Praxis Ome- prazol verordnet. Nach einigen Monaten

Hinweis: In jedem Fall gilt, dass eine ge- dankenlose Arzneimittelabgabe ohne

AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal /  9

MEHR ARZNEIMITTELTHERAPIESICHERHEIT IN DER APOTHEKE

ein Rezept über Aciclovir ein. Es stellt sich heraus, dass die Tochter eine Gürtel- rose hat, sie haben doch noch den Arzt konsultiert. Wo sehen Sie Gründe für das Ereignis? Unzureichende Kenntnis im Bereich der optischen Erkennung einer Gürtelrose, au- ßerdem war das Alter eher untypisch für eine derartige Erkrankung. Zu schneller Rückschluss erfolgt, die Beur- teilung hätte kritischer erfolgen müssen.

Informationen und Nachfragen nicht aus- reichend ist. Eine Prüfung der Plausibilität der Verordnung kann eine Verwechslung verhindern.

Dosierung ausgewählt, das Rezept wird mit Metex® 7,5 mg Fertigspritzen be- druckt. Da der Artikel nicht vorrätig ist, muss die Patientin zur Abholung der Me- tex® Spritzen nochmal in die Apotheke kommen. Da das Rezept nicht dem Abhol- beleg beigelegt wird, fällt nicht auf, dass die falsche Dosierung bestellt wurde. Die Patientin erhält also Metex® 7,5 mg Sprit- zen statt 10 mg. Da sie vorher Metex® 15 mg Tabletten bekommen hatte, konnte auch der Patientin selbst nichts auffallen. Die ersten Spritzen Metex® 7,5 mg wur- den in der Arztpraxis von den Sprechstun- denhilfen verabreicht. Der Fehler ist erst nach der 3. Injektion aufgefallen. Was war das Ergebnis? Die Patientin wurde mit zu wenig MTX therapiert, 7,5 mg statt 10 mg einmal wöchentlich. Der Hausarzt hat nach Rück- sprache mit der Patientin entschieden, zunächst bei der Dosierung 7,5 mg einmal wöchentlich zu bleiben, bis die Patientin den nächsten Termin beim Rheumatolo- gen hat. Die Patientin hatte klinisch keine Verschlechterung gezeigt. Wo sehen Sie Gründe für das Ereignis? Die fehlerhafte Eingabe ins Computer- system durch die Apothekerin stellt die Fehlerursache dar. Da bisher kein standar- disiertes „Vier-Augen-Prinzip“ vor Arznei- mittelabgabe gewährleistet ist, ist der Feh- ler „durchgewandert“, ohne aufzufallen. Solche Fehler können vermieden wer- den, wenn Rezept plus Abholbeleg vor der Abgabe mit dem Arzneimittel verglichen werden. GRENZEN DER SELBSTMEDIKATION 18 • Alter des Patienten • Unklare Symptomschilderung • Art, Dauer, Häufigkeit der Symptome • Andere Erkrankungen • Verdacht auf UAW aufgrund verord- neter Arzneimittel • Verdacht auf Arzneimittel- missbrauch • Selbstmedikation in der Schwanger- schaft/Stillzeit

Fall-Nr. 137126: Grenzen der Selbstmedikation

Was ist passiert? Eine Mutter kommt im Hochsommer mit ihrer Tochter in die Apotheke und fragt nach einem Mittel gegen Mückenstiche; die Tochter hat am Rücken auf Schul- terblatthöhe viele kleine Pusteln, leicht gerötet, erhaben, juckend, nicht dicht beieinander. Es erfolgt eine Sichtprüfung durch den Apotheker. Es besteht kein Hinweis darauf, dass es etwas anderes als Mückenstiche sein könnten, die Mückenplage war auch recht hoch zu der Zeit. Ergo wird Fenistil® Gel abgegeben. Was war das Ergebnis? Mutter und Tochter kommen ein wenig später wieder in die Apotheke und reichen DAS BEWUSSTSEIN FÜR VERWECHS­ LUNGSMÖGLICHKEITEN STÄRKEN UND ABGABEFEHLER VERMEIDEN. „Sound-alike Drugs“ wären beispiels- weise: • Olmetec® (Olmesartan) – Omep® (Omeprazol) • Janumet® (Sitagliptin &Metformin) – Januvia® (Sitagliptin) • Actonel® (Risedronat) – Actos® (Pioglitazon) • Captopril (Lopirin®) – Carvedilol (Dilatrend®) • Anzemet® (Dolasetron) – Avanda- met® (Rosiglitazon &Metformin) • ASS® (Acetylsalicylsäure) – ACC® (Acetylcystein) • Dekristol® (Colecalciferol) – Decos- triol® (Calcitriol) • Cisplatin (Platinol®, Platiblastin®) – Carboplatin (Paraplatin®) • Valsartan – Vagantin® (Methantheliniumbromid) EINE AUFLISTUNG ÄHNLICHER MEDIKAMENTENNAMEN KANN

Kam der Patient zu Schaden ? Nein Wer berichtet? Apothekerin/Apotheker

Kurzanalyse Fall-Nr. 137126

Bei der Beratung imRahmen der Selbstme- dikation in der Apotheke müssen während des Gespräches zunächst ausreichend In- formationen gesammelt werden, um zu entscheiden, ob die Selbstmedikation mit Arzneimitteln zu verantworten ist oder ob ein Arztbesuch anzuraten ist. Im vorliegen- den Fall hat der Apotheker aufgrund einer Fehleinschätzung bei der Sichtprüfung der Hauterscheinung nicht zum Arztbesuch geraten. Angesichts der bestehenden Mü- ckenplage lag die Feststellung "Mücken- stich" auf der Hand – ein derartiger Kau- salzusammenhang ist also naheliegend, muss aber nicht richtig sein. Auch bei of- fensichtlich klaren Gegebenheiten bzw. klarer Darstellung der Symptome sollten alternative Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik in Betracht gezogen werden. Hinweis: Eine gute Orientierung bei der Beratung in der Selbstmedikati- on in der Apotheke bietet das Fließdia- gramm der Bundesvereinigung Deut- scher Apothekerverbände (ABDA) in der Leitlinie „Information und Bera- tung des Patienten bei der Abgabe von Arzneimitteln – Selbstmedikation“. 18

Fall-Nr. 141647: Wechsel Dauermedikati- on Methotrexat (MTX)

Was ist passiert? Die Patientin kommt mit einem Kassen- rezept über Metex® 10 mg Fertigspritzen 10 Stück in unsere Apotheke. Bei Eingabe ins System wird versehentlich eine falsche

• Cotrimoxazol – Clotrimazol • Levocarbastin – Levocetirizin • Prednison – Prednisolon • Azithromycin – Azathioprin

Kam der Patient zu Schaden? Passagerer Schaden: leicht bis mittel

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ANNABELLE HEIMING

1–10. 5 Nemeth C, Wears R, Woods D, Hollnagel E, Cook R. Minding the Gaps: Creating Resilience in Health Care. In: Henriksen K, Battles JB, Keyes MA, et al., editors. Advances in Patient Safety: New Directions and Alternative Approaches (Vol. 3: Performance and Tools). 2008. Abrufbar unter www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK43670/ (Stand: Juli 2017) 6 Hollnagel E, Woods D, Leveson N. Resilience Engineering. Concepts and Precepts. Ashgate, Aldershot (Hampshire). 2006. 7 Kassenärztliche Bundesvereinigung: Mehr Sicherheit bei der Arzneimitteltherapie. 2014. 8 §1a Abs.3 Apothekenbetriebsordnung 9 Hahnenkamp C, Rohe J, Sanguino A, Thomeczek C. Berichts- und Lernsysteme: Für ein Mehr an Arzneimitteltherapiesicherheit. Fortbildungs- journal AKWL. 2012, 1: 26-31. 10 http://asrs.arc.nasa.gov/ 11 Rohe J, Thomeczek C. Aus Fehlern lernen: Risiko- management mit Fehlerberichtssytemen. GGW. 2008,1: 18-25. 12 Rall M, Zieger J, Stricker E, Reddersen S, Hirsch P, Dieckmann P. Das anonyme Incident Reporting System „PaSIS“ und PaSOS. Arzneimittelthera- pie. 2007, 6: 222-223. 13 Gausmann P, Henninger M, Koppenberg J. Patientensicherheitsmanagement. Walter de Gruyter, Berlin/Boston. 2015. 14 World Health Organisation (WHO): Draft for Adverse Event Reporting and Learning Systems. 2005. 15 Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS): Agenda Patientensicherheit. 2016. 16 Gemeinsamer Bundesausschuss: Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über grundsätzliche Anforderungen an ein ein- richtungsinternes Qualitätsmanagement für Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, Vertrags- psychotherapeutinnen und Vertragspsychothe- rapeuten, medizinische Versorgungszentren, Vertragszahnärztinnen und Vertragszahnärzte sowie zugelassene Krankenhäuser. 2016. 18 Hahnenkamp C, Rohe J, Thomeczek C. Ich sehe

Wer berichtet? Apothekerin/Apotheker

was, was du nicht schreibst… Dt. Ärzteblatt. 2011, 36: 1850-1854. Abrufbar unter www.kh- cirs.de/pdf/DAEB-LASA-110909-FIN.pdf (Stand: Juli 2017) 19 Leitlinie der ABDA. Abrufbar unter www.abda. de/themen/apotheke/qualitaetssicherung0/ leitlinien/leitlinien0/ (Stand: Juli 2017) 19 Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS): Oral appliziertes Methotrexat. 2013. • Bei jeder Dienstversammlung kann ein Fall aus CIRS-Pharmazie NRW vorgestellt und mit den Fragestel- lungen „Könnte das bei uns auch passieren?“ und „Wie ließe sich ein solcher Fehler vermeiden?“ kurz dis- kutiert werden. WELCHE NEUIGKEITEN SPRECHE ICH AUF DER NÄCHSTEN DIENST­ VERSAMMLUNG AN? • Seit Mai 2016 gibt es das Fehlerbe- richts- und Lernsystem CIRS-Phar- mazieNRWzurMeldungvonFehlern und Beinahe-Medikationsfehlern. • Unter www.cirs-pharmazie.de können Fehler und Beinahe-Medi- kationsfehler selbst gemeldet und darüber hinaus andere fachkom- mentierte Berichte gelesen werden. • Medikationsfehler entstehen vor allem bei der Abgabe von Arznei- mitteln (Rezeptbelieferung und Selbstmedikation) aber auch bei der Medikationsanalyse, bei der Herstellung von Rezeptur-Arznei- mitteln, im Botendienst oder durch Kommunikations- oder Verstän- digungsprobleme innerhalb des Apotheken-Teams. • Die Etablierung von CIRS-Phar- mazie NRW im Risikomanage- ment der Apotheke bietet ei- nen zusätzlichen Nutzen für die Arzneimitteltherapiesicherheit.

Kurzanalyse Fall-Nr. 141647

Bei Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Methotrexat (MTX) handelt es sich um sogenannte „Hochrisikoarzneimittel“. 19 Darunter sind Arzneimittel mit besonders hohem Risikopotential bei falscher An- wendung oder Dosierung zu verstehen. Medikationsfehler, die im Verlauf einer Therapie mit Hochrisikoarzneimitteln auftreten, können unerwünschte Arznei- mittelereignisse (UAE) mit schwerwie- genden Konsequenzen für den Patienten nach sich ziehen. Entsprechend dem vorliegenden Fall- bericht wurde das MTX vom Arzt in der richtigen Stärke verordnet. In der Apo- theke allerdings wurde ein zu niedrig do- siertes Fertigarzneimittel abgegeben. Ein Grund für die Falschbestellung könnte die unterschiedliche Deklaration der Stärke auf den im Handel befindlichen MTX- Fertigarzneimitteln sein. So beziehen sich die Mengenangaben auf der Verpackung oder auch in der Lauer-Taxe entweder auf den Gehalt von MTX in einer Spritze bzw. einem Fertigpen oder auf ein bestimmtes Volumen (z. B. 15 mg pro Fertigpen oder 15 mg pro 0,3 ml Lösung). Es ist verständ- lich, wenn durch die unterschiedlichen Angaben Verwirrung und Unklarheiten auftreten. Ein Vergleich mit dem ausge- stellten Rezept („Vier-Augen-Prinzip“) oder ein früherer Abgleich in der Arztpra- xis hätte denMedikationsfehler in diesem Fall verhindern können. Hinweis: Aufgrund der ungewöhnlichen Applikationsfrequenz von „einmal wö- chentlich“ bei Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Methotrexat können leicht Ein- nahmefehler passieren. REFERENZEN & LITERATUR 1 Aly, A-F. Definitionen zu Pharmakovigilanz und Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS). Arznei- verordnung in der Praxis (AVP) 2015, 42: 99-104. 2 www.aezq.de/patientensicherheit/service-ps- online/glossar-patientensicherheit/#K 3 Reason J. Human error: models and man¬agement. BMJ, 2000, 320:768-770. 4 Jaehde, U, Kloft, C, Kulick, M. Herausforderung und Zukunftssicherung. Pharm. Ztg. 2013, 18:

ZUSAMMENFASSUNG UND EMPFEHLUNGEN: Zusammen mit anderen Gesundheitsberufen, wie Ärzte und Pflegekräfte, sind Apo- thekerInnen am Medikationsprozess beteiligt. Bei dem Medikationsprozess handelt es sich um einen Hochrisikoprozess, weil Medikationsfehler dem Patienten große Schäden zufügen können. Die Mitarbeiter in der Apotheke können Medikationsfehler und Beinahe-Medikationsfehler seit 2016 anonym im Fehlerberichts- und Lernsystem CIRS-Pharmazie NRWmelden. Durch den offenen Umgang und die systematische Auf- arbeitung von Fehlern und Beinahe-Medikationsfehlern können Sicherheitslücken im System aufgedeckt und reduziert werden. So tragen Fehlerberichts- und Lernsysteme im Gesundheitswesen dazu bei, die Patientensicherheit zu erhöhen.

AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal /  11

CHAOS IM KINDERZIMMER

Chaos im Kinderzimmer Adhärenz bei Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 1

Die Therapietreue sollte nicht nur bei Senioren und Patienten, die vie- le Arzneimittel einnehmen müssen, überprüft und optimiert werden, auch Kinder und Jugendliche profi- tieren hiervon! Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammen- hang, das Therapieverständnis und die Therapietreue junger Patienten mit chronischen Erkrankungen zu fördern, da sie oft lebenslang mit der Erkrankung und deren Behand- lung konfrontiert sind. Werden entsprechende Weichen nicht früh gestellt, kann die Einstellung zur Krankheit und der Umgang mit ihr nur schwer in späteren Lebensjah- ren erlernt werden. Mitunter wird durch eine schlechte Kontrolle der Erkrankung in der Kindheit und Ju- gend auch der Weg für irreparable Folgeschäden geebnet. In Deutschland leben derzeit ca. 30.000 Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus Typ 1 (T1DM). Auf sie treffen in besonderem Maße die oben genann- ten Feststellungen zur Dringlichkeit der frühen Weichenstellung zu, denn junge Diabetiker haben noch ein langes Leben vor sich. Bei schlechter glykämischer und metabolischer Kontrolle drohen akute Komplikationen, wie schwere Hypoglyk- ämien und diabetische Ketoazidose. Wird die Therapie aber über Jahre nicht gut ein- gehalten, können zudem mikro- und ma- krovaskuläre Langzeitschäden, wie eine diabetische Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie resultieren. Insbeson- dere Jugendliche gelten als Risikopatien- ten in der Diabetestherapie und werden häufiger als Patienten anderer Alters- gruppen mit Komplikationen in ein Kran- kenhaus aufgenommen. Der Grund: Ihr Blutzucker ist aufgrund physiologischer Veränderungen in der Pubertät aber vor allem auch durch eine wesentliche psy- chosoziale Komponente, das jugendliche Autonomiestreben, schwer einzustellen. Krankheit ohne Auszeit

Dr. Verena Stahl (Herdecke) ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landes- weiten Drug Information & Pharmacy Resource Center ausgebildet. Außerdem: berufsbegleitende Dissertation zu einem Thema der AMTS, freiberufliche Tätigkeit u. a. als Autorin für die DAZ und als Referentin für diverse Apothe- kerkammern.

Dr. Verena Stahl

Zu den physiologischen Veränderun- gen zählen z. B. verstärkte Stress- und Wachstumshormonausschüttung, letzte- re erhöhen insbesondere die morgendli- chen Blutzuckerwerte (auch bekannt als Dawn-Phänomen), aber auch verstärkte Sexualhormonausschüttung, welche die Insulinempfindlichkeit senken. Proble- matisch ist in diesem Lebensabschnitt auch, dass Jugendliche ein verändertes und unregelmäßiges Ess- und Schlafver- halten zeigen, auch treten Essstörungen unter (meist weiblichen) jugendlichen Di- abetikern gehäuft auf. 1 Im Streben nach Unabhängigkeit vernachlässigen viele Heranwachsende ihre Therapie, z. B. in- dem sie nicht mehr zuverlässig Blutzucker messen, Insulineinheiten „Pi mal Daumen“ spritzen oder gar Verweigerungsversu- che gegen den unsichtbaren Feind – oder übertragen auf die Eltern – unternehmen. Die Akzeptanz der Erkrankung und ihrer Therapie ist in diesem Lebensabschnitt besonders problematisch. Auch wollen Jugendliche nicht krankheits- oder thera- piebedingt aus ihrem Freundeskreis aus- geschlossen werden, wollen auch einmal feiern gehen oder auswärts übernachten, jedoch können sie sich die Flexibilität der Gleichaltrigen in puncto Lebensstil (bei- spielsweise bzgl. Mahlzeiten, Alkoholkon- sum) nicht erlauben. Ihren Alltag diktiert der Diabetes.

Anforderungen an die Adhärenz

Bei intensivierter Insulintherapie wird den Patienten tagtäglich viel abverlangt. The- rapietreue bedeutet hier – bedingt durch die Komplexität der Erkrankung und der Therapie – wesentlich mehr als nur die korrekte Einnahme von Arzneimitteln: • 4- bis 6-mal am Tag Blutzucker messen und dokumentieren, • 4- bis 5-mal am Tag Insulin spritzen, • 3-mal am Tag Brot- oder Kohlenhydrat- einheiten zählen, • gezielt Zwischenmahlzeiten einneh- men, auch wenn man nicht hungrig ist Dies entspricht ca. 5.000 Interventionen pro Jahr, in denen der jugendliche Patient mit seiner Erkrankung konfrontiert ist. Belastend kommt hinzu, dass Blutzucker- messungen und Insulin spritzen oft in der Öffentlichkeit (Schule) oder in unpassen- den Situationen durchzuführen sind. Eine Diabetestherapie ist aber eben- so wenig starr wie die zugrundeliegende Erkrankung und der eigene Tagesablauf: ständig muss das Verhalten reflektiert und angepasst werden, d. h., es müssen stets Entscheidungen getroffen wer- den, zum Beispiel zur Dosisanpassung bei sportlichen Aktivitäten, infolge ei- nes abweichenden Essverhaltens oder

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DR. VERENA STAHL

„unbeliebt“. Die Erziehungsberechtigten, die vielleicht schon seit vielen Jahren die Therapie ihrer Kinder, zum Teil „aufopfe- rungsvoll“ gesteuert und begleitet haben, müssen daher frühzeitig lernen, Stück für Stück Verantwortung abzugeben, ein gesundes Maß an Vertrauen und Kont- rolle walten zu lassen und ihre Sprösslin- ge entwicklungs- und altersgerecht im Selbstmanagement ihrer Erkrankung zu unterstützen. Schon im Grundschulal- ter können Kinder beispielsweise eigene erste Aufgaben übernehmen, wie z. B. Blutzuckermessen und Broteinheit (BE) oder Kohlenhydrateinheit (KE) schätzen (Abbildung 1). Um Kinder und Jugendliche mit T1DM zu befähigen, eigene Therapie-Entscheidun- gen treffen zu können, müssen sie von Kindesbeinen an in die Rationale der Ent- scheidungsfindung und im Umgang mit Problemen im Zusammenhang mit der Diabetestherapie eingebunden werden. Je besser dies gelingt, umso schneller wer- den die Jugendlichen zu Experten bezüg- lich ihrer eigenen Therapie und umsomehr Vertrauen haben sie in ihre Kompetenz, Selbstmanagement erlernen

als Reaktion auf zu hohe oder zu nied- rige Blutzuckerwerte. Dies ist wahrlich kein „Kinderspiel“ und auch beim Einsatz von Insulinpumpen ist viel Mitdenken erforderlich!

die Erkrankung im Griff zu haben (Selbst- wirksamkeit). Diese Eigenschaften befä- higen sie dann auch, mit ihren Eltern und den Behandlern auf Augenhöhe über die Erkrankung und die Therapie sprechen zu können. Dennoch sollten Eltern als beratende und unterstützende Instanz im Hintergrund bleiben, da Kindern und Jugendlichen nicht immer die Konsequen- zen ihrer Entscheidungen verständlich sind. Ziehen sich Eltern zu früh aus dem „Diabetes-Management“ zurück (sei es durch eigene Überforderung, Zeitman- gel, aber auch infolge Überdrüssigkeit), ohne dass ihre Kinder die notwendigen Kompetenzen im Selbstmanagement der Erkrankung erlangt haben, kann dies die Adhärenz der Therapie stark schwächen. 2 Zudem werden Misserfolge bei der alters- typisch geringen Frustrationstoleranz nur schwer weggesteckt. WEITERFÜHRENDE LINKS • Bund diabetischer Kinder und Ju- gendlicher e.V.: www.bund-diabetischer-kinder.de • Forum für Kinder, Jugendliche und Eltern: www.diabetes-kids.de • Forum für Jugendliche: www.diabetes-teens.net • Stationäres Hilfswerk für jugendli- che Diabetiker: www.jugenddiabetes.de • Diabetes-Trainingscamp für Kinder und Jugendliche: www.zuckerstachel.de • LesenswerterBlogvonzweiMüttern: www.kinder-mit-typ1-diabetes.net Der Kommunikation zwischen Eltern und Jugendlichen mit T1DM über die Erkran- kung kommt in der hitzigen Phase der Pu- bertät eine besondere Bedeutung zu. Eltern müssen sich dabei stets vor Au- gen führen, dass ihre Rolle als „Diabetes- Manager“ nicht die bestimmende Kom- ponente in der Eltern-Kind-Beziehung (und im gesamten Familiengefüge!) sein darf, denn das Kind ist mehr als sein Dia- betes! Psychologen der Universität Utah konnten in ihrer Longitudinalstudie mit 252 jugendlichen Typ-1-Diabetikern und ihren Eltern den Nachweis erbringen, dass die Güte der mütterlichen und väterlichen Klare Regeln und Teamwork

Der Diabetes-Manager

Die Aufgabe des „Diabetes-Managers“ übernehmen meist Mütter (seltener Vä- ter) und in jungen Jahren gelingt es den Familien oft, die gesteckten Therapie- ziele einzuhalten. Dies ändert sich typi- scherweise in der Pubertät, in der es den Heranwachsenden meist an der für eine Diabetestherapie unabdingbaren Diszi- plin mangelt, gleichzeitig steigt die Risi- kobereitschaft (hinzukommen die oben angesprochenen physiologisch beding- ten Stoffwechselschwankungen) und die Unterstützung der Eltern nimmt ab. Die Folgen dessen sind mitunter dramatisch: Die Erkrankung entgleist, Krankenhaus- aufnahmen treten gehäuft auf und die HbA1c-Werte schrauben sich in schwin- delerregende Höhe. Schnell machen sich die besorgten Eltern mit gut gemeinten Ratschlägen oder durch häufiges Nach- fragen, z. B. zur erfolgten Blutzuckermes- sung oder zum aktuellen Blutzuckerwert

ABBILDUNG 1: Nur wenn Kindern früh Verantwortung für die eigene Therapie übertra- gen wird, können sie das Selbstmanagement ihrer Erkrankung erlernen.

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CHAOS IM KINDERZIMMER

unter Gleichgesinnten den Umgang mit ihrer Krankheit neu erlernen können.

Zuwendung und die Qualität der Eltern- Kind-Beziehung wesentlich dazu betrug, dass die Adhärenz der Jugendlichen in der kritischen Umbruchphase weniger abnahm. 2 Hilfreich ist, familienintern klare Re- geln festzulegen, welche Verantwortlich- keitenbestehenundwannund inwelchem Umfang – konstruktiv und respektie- rend – über die Erkrankung und deren The- rapie gesprochen wird. Beispielsweise können täglich abgehaltene, zehnminü- tige „Diabetesbesprechungen“ die Situ- ation für alle Beteiligten entspannen. In diesem Rahmen können Messwerte und aktuelle Probleme besprochen werden. Im Gegenzug vereinbart man, im sonstigen Tagesverlauf nicht über die Erkrankung zu reden (außer natürlich im Akutfall), „ner- vende“ Zwischenfragen der Eltern finden ebenso wenig statt, wie aggressiv-ab- wehrende Reaktionen der Jugendlichen. Hilfreich kann unter Umständen auch die Nutzung von Smartphone-Apps zur Blut- zuckerdokumentation sein, bei denen Er- ziehungsberechtigte per Online-Portal die Möglichkeit haben, die erfassten Daten einzusehen. Auch können sensorbasier- te Glukosemesssysteme (kontinuierliche Glukosemessung, CGM) eine gravierende Erleichterung bei der Blutzuckermessung bedeuten. Die Reflexion der Werte und Anpassung des Verhaltens bleibt aber wei- terhin erforderlich. Eltern und Jugendliche sollten gemeinsam Absprachen zu realistischen Therapiezie- len treffen, auch hilft es nicht, HbA1c-Wer- te streng wie Noten zu betrachten. Hinge- gen sind Belohnungen bei therapietreuem Verhalten erlaubt und förderlich. Pädiater der Universität von Pennsylvania konn- ten in einer Studie mit jugendlichen Typ- 1-Diabetikern und ihren Eltern zeigen, dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung bezüglich der Therapie (z. B. debattierend, unter Aufzeigen von Möglichkeiten durch die Eltern, Gedankenaustausch) zu einer besseren Einschätzung der eigenen Adhä- renz durch die Jugendlichen führte. 3 Die Adhärenz konnte noch weiter gefördert werden, wenn Jugendliche dazu ermutigt wurden, Gemeinsam – nicht gegeneinander

GRÜNDE FÜR EINE LANGZEITREHABILITATION

• im Alltag mit ihren Eltern krankheitsbe- zogene Informationen auszutauschen/ preiszugeben (z. B. „Gerade fühle ich mich unterzuckert.“), • um Rat zu fragen, • aber auch ihre eigene Meinung zu ver- treten (z. B. „Ich sollte besser direkt mei- nen Blutzucker messen und meine Insu- lindosis anpassen“), so dass Eltern an diesen Stellen unterstüt- zend Feedback geben konnten. Mischten sich Eltern aber zunehmend ein, indem sie beispielsweise den Jugendlichen ih- ren Standpunkt aufzwangen, führte dies zu einer von den Eltern eingestuften schlechteren Adhärenz der Jugendlichen. Bei sehr starken Eltern-Kind-Konflikten oder sehr schlecht eingestelltem Diabetes empfiehlt sich der (manchmal auch nur vorübergehend erforderliche) Besuch ei- nes „Diabetes-Internats“ im Rahmen einer Langzeitrehabilitation (siehe Kasten). In Deutschland gibt es ca. sechs Einrichtun- gen, in der die Betroffenen neue Lebens- qualität erfahren und fernab der Eltern • familiäres Umfeld ist mit der Dia- betestherapie überfordert, starke familiäre Konflikte rund um den Diabetes • unzureichendes Management der Erkrankung und daraus resultie- rende akute Komplikationen wie Hypoglykämie oder Hyperglykämie sowie drohende Folgeschäden • Kindswohlgefährdung • keine oder geringe Krankheitsak- zeptanz durch den Jugendlichen • manipulierendes Verhalten im Zu- sammenhang mit der Erkrankung • psychosoziale Symptome (u. a. de- pressive Entwicklungen, Ängste, Verleugnung, Verdrängung, aggres- sives und autoaggressives Verhal- ten) • häufiges Fehlen in der Schule durch Krankheit und Krankenhausaufent- halte • schulische und berufliche Entwick- lung gefährdet

Therapieziel verfehlt

Wie schlecht steht es nun um die Blutzu- ckerwerte der jungen Typ-1 Diabetiker? Erschreckende Ergebnisse zu ihrer Stoff- wechseleinstellung brachte eine große amerikanische Studie zutage (siehe Tabel- le 1). Hier erreichten nur 21 Prozent der Ju- gendlichen zwischen 13 und < 20 Jahren (n=7303) das von der American Diabetes Association (ADA) gesteckte HbA 1c -The- rapieziel von < 7,5 Prozent, welches zur Vermeidung von Folgeerkrankungen ein- gehalten werden sollte. 4 Dabei konnte interessanterweise kein signifikanter Un- terschied in Abhängigkeit von der Insulin- Applikationsweise festgestellt werden; 18 Prozent der Jugendlichen erzielten mit herkömmlicher Spritzentechnik das HbA 1c - Ziel und leider nur 24 Prozent unter Ver- wendung einer Insulinpumpe. Vieles spricht also dafür, dass auch unter dem Einsatz verbesserter Technologien eine optimale Blutzuckereinstellung in dieser Altersgruppe nicht zwangsläufig gelingt und es ein Trugschluss wäre, Insulinpum- pen als Lösung des Adhärenzproblems anzusehen. Zum Vergleich: 50 Prozent der Kinder zwischen sechs und < 13 Jahren erreich- ten in der Untersuchung das in dieser Al- tersgruppe geltende HbA 1c -Therapieziel von < 8,0 Prozent mit Hilfe einer Insulin- pumpe und 34 Prozent unter Anwendung der herkömmlichen Spritztechnik. Jugendliche mit Diabetes mellitus Typ 1 werden durch (Kinder-)Diabetologen und Diabetesberater kompetent behandelt, beraten und geschult. Oft kennen sich die Beteiligten über Jahre und das für die Behandlung erforderliche Vertrauensver- hältnis ist vorhanden. Auch sind psycho- soziale Probleme häufiges Gesprächsthe- ma. In der Regel finden die Termine aber nur einmal pro Quartal in der Diabetes- ambulanz statt. Dies ist wenig für eine derart betreuungsintensive Erkrankung (Abbildung 2). Daher untersuchte eine Studie in Deutschland und Bosnien-Herzegowina Nicht ohne meinen Apotheker

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