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RECHTSPRECHUNG

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f.). Für die Schweiz ist dieser Entscheid deswegen von beson­ derer Relevanz, weil auch das schweizerische Recht für die Verfolgung von Völkermord das Weltrechtsprinzip vorsieht (Art. 264 Abs. 2 StGB) und der schweizerische Völkermord­ tatbestand ebenfalls voraussetzt, dass der Täter die Absicht hat, «eine durch ihre Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder ethnische Zugehörigkeit gekennzeichnete Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten» (Art. 264 Abs. 1 StGB). I. Nach Art. 264 Abs. 2 Satz 1 StGB ist das schweizeri­ sche Strafrecht auf imAusland begangene Völkermordtaten dann anwendbar, wenn sich der Täter in der Schweiz auf­ hält und nicht ausgeliefert werden kann. Nach dem verun­ glückten Verweis in Art. 264 Abs. 2 Satz 2 StGB, der sich nicht auf den – gar nicht mehr existenten – Art. 6 bis StGB bezieht, sondern auf Art. 6 Abs. 3 StGB (Stratenwerth/ Wohlers, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommen­ tar, Bern 2007, Art. 264 N 11), wird die Tat dann nicht mehr verfolgt, wenn der Täter durch ein ausländisches Gericht endgültig freigesprochen oder verurteilt und die Strafe voll­ zogen worden ist, es sei denn diese Verurteilung ist in einem Verfahren ergangen, mit dem in krasser Weise gegen die Grundsätze der Bundesverfassung und der EMRK versto­ ssen wurde. Die Inanspruchnahme des Weltrechtsprinzips ist in der schweizerischen Literatur allgemein als zulässig eingestuft worden (Wehrenberg, in: Niggli/Wipräch­ tiger (Hrsg.), BSK StGB II, 2. Aufl., Basel 2007, Art. 264 N 43 ff.; Donatsch/Wohlers, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 3. Aufl., Zürich 2004, 239 f.; Straten­ werth, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II, Straf­ taten gegen Gemeininteressen, 5. Aufl., Bern 2000, § 41 N 9). Dieser Standpunkt wird durch den vorstehend abge­ druckten Entscheid bestätigt. Hätte der Beschwerdeführer den Versuch unternommen, in die Schweiz einzureisen, wäre die Schweiz nach Art. 264 Abs. 2 StGB verpflichtet gewe­ sen, ihn – soweit nicht eine Auslieferung an einen anderen Staat oder an ein internationales Gericht möglich ist – we­ gen einer Straftat nach Art. 264 Abs. 1 StGB zu verfolgen. II. Die im Völkermordtatbestand des schweizerischen Rechts vorgesehene Absicht, eine durch bestimmte Merkma­ le charakterisierte Gruppe «ganz oder teilweise zu zerstören» entspricht der Sache nach dem Absichtsmerkmal des deut­ schen Völkermordtatbestands und wird in der schweizeri­ schen Lehre auch dahingehend verstanden, dass nicht nur die Fälle erfasst sind, in denen die Mitglieder der Gruppe ins­ gesamt oder in wesentlicher Anzahl physisch ausgelöscht werden sollen, sondern auch die Fälle, in denen die Gruppe dadurch untergeht, dass ihr Zusammenhalt vernichtet wird, z.B. auch durch die Zerstreuung der Gruppe im Rahmen eth­ nischer Säuberungen (BSK-Wehrenberg, Art. 254 N 36). Der EGMR hat diese international gesehen umstrittene Aus­ legungshypothese als vertretbar anerkannt (§§ 104 ff.) und darüber hinaus festgehalten, dass es ausreicht, dass die Mög­

lichkeit, dass dieses Straftatmerkmal entsprechend interpre­ tiert wird, für den Täter – gegebenenfalls mit anwaltlicher Unterstützung – vorhersehbar war (§ 113).

Prof. Dr. Wolfgang Wohlers

n

Nr. 16 EGMR, Third Section, Case of van Vondel v. the Netherlands vom 25. Oktober 2007, Application no. 38258/03

Art. 8 EMRK: Zurechnung privater Handlungen zumStaat, heim- liche Tonbandaufnahmen. Der Ausdruck «Privatleben» darf nicht restriktiv ausgelegt werden. Insbesondere ist es nicht angezeigt, berufliche oder ge­ schäftliche Tätigkeiten von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 8 EMRK auszunehmen. Auch zwischenmenschliche Vorgän­ ge, die in einem öffentlichen Kontext stehen, können daher demMerkmal «Privatleben» unterfallen (§ 48). Die Zurech­ nung privater Handlungen zum Staat setzt einen massgeblichen Beitrag des Staates zur Ausführung der Tat voraus (§ 46). Vorlie­ gend ist dem Staat die Herstellung heimlicher technischer Auf­ zeichnungen durch eine Privatperson zurechenbar mit der Folge, dass ein staatlicher Eingriff in Art. 8 EMRK gegeben ist (§ 49). Solange das nationale Recht keine gesetzliche Eingriffsgrundlage vorsieht, die den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK genügt, ist dieser Eingriff unzulässig (§§ 50-54). Dies gilt auch dann, wenn die staatliche Mitwirkungshandlung im Interesse eines schutzbe­ dürfigen Bürgers liegt (§ 53). (Regeste der Schriftleitung) Art. 8 CEDH: imputation d’agissements privés à l’Etat, enregis- trements audios clandestins. L’expression «vie privée» ne doit pas être interprétée de manière restrictive. Il n’y a notamment pas lieu d’exclure d’emblée les ac­ tivités professionnelles ou commerciales du champ d’application de l’art. 8 CEDH. Les relations interpersonnelles qui s’inscrivent dans un contexte public peuvent dès lors relever de la «vie privée» (§ 48). L’imputation d’agissements privés à l’Etat suppose une contribution essentielle de ce dernier à l’exécution de l’acte (§ 46). En l’espèce, la réalisation d’enregistrements techniques clandes­ tins par un particulier est imputable à l’Etat; partant, il y a une ingérence de l’autorité publique dans l’exercice d’un droit proté­ gé par l’art. 8 CEDH (§ 49). Cette ingérence est inadmissible tant et aussi longtemps que le droit national ne prévoit pas de base lé­ gale satisfaisant aux exigences de l’art. 8 al. 2 CEDH (§§ 50–54). Cela vaut quand bien même l’Etat interviendrait dans l’intérêt d’un citoyen nécessitant sa protection (§ 53). (Résumé de la ré­ daction) Art. 8 CEDU: imputazione di atti privati allo Stato, registrazioni audio segrete. L’espressione «vita privata» non dev’essere interpretata restritti­ vamente. In particolare, l’esclusione a priori delle attività profes­ sionali o commerciali dall’ambito protetto dell’art. 8 CEDU non è adeguata. Anche le vicende interpersonali che stanno in un con­ testo pubblico possono quindi presentare il tratto distintivo del

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