Blickpunkt Schule 1/2024

spielt naturgemäß eine sehr große Rolle beim Lesekompetenzerwerb. Um Chancen- und Bildungsgerechtig keit über das Erlangen von Lesekom petenzen gewährleisten und damit auch soziale Ungleichheiten nivellie ren zu können, reichen das schulische Engagement und das Unterstüt zungsangebot der Bildungsinstitutio nen allein aber nicht aus. 4 Tatsächlich sollten die Sprachför derung und die literale Bildung auch nicht erst ab dem zweiten Lebensjahr durch das Elternhaus in besonderer Weise gefördert werden. Vielmehr deuten einschlägige Studien und de ren Ergebnisse zur frühen Sprachför derung darauf hin, dass Kinder von Anfang an – »from birth to the time when they are able to read and wri te« 5 – mit sprachlicher Interaktion in möglichst vielfältiger Form konfron tiert und dieser ausgesetzt sein soll ten. Am wirksamsten ist dies, wenn das unmittelbare familiäre Umfeld (oder das sogenannte home literacy environment (HLE)) diese sprachliche Interaktion und die Auseinanderset zung mit dem Lesen, Vorlesen und Er zählen gestaltet. 6 Dabei sind das pas sive Zuhören und die nonverbale Kommunikation in den ersten Le bensmonaten entscheidende Fakto ren für die spätere verbale Kommuni kationsfähigkeit eines Kindes. Gebun den an diese Beobachtung ist die Feststellung, dass Kinder aus sozio ökonomisch stabilen Verhältnissen, deren Eltern über einen gewissen Bil dungshintergrund verfügen, durch schnittlich bedeutend früher in der beschriebenen Weise mit Sprache der Familie in Berührung kommen und später – vermutlich unter anderem auch deshalb – kompetenter im Spre chen, Lesen und Schreiben sind und werden. 7 Zudem scheint es eine Kor relation zwischen der möglichst frü hen Vorlesepraxis und dem späteren Leseverhalten bzw. der späteren in trinsischen Lesemotivation zu geben. Je früher Kindern vorgelesen wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder selbst während ihrer Schullaufbahn zu aktiven Leserinnen und Lesern werden. 8

Das frühe Vorlesen und der kom munikative Austausch sind ebenfalls für den Beginn der Schulzeit relevant, da sie sich positiv auf die Lesekompe tenz und das Leseverstehen auswir ken und diese wiederum den Schrift spracherwerb vorentlasten und er leichtern. 9 Phonologische Bewusst heit, vorhandener Wortschatz und grammatikalische Kenntnisse bzw. linguistische Kompetenzen, die das Leseverstehen bedingen und die über die frühe Sprachförderung ausge prägt werden, sind als sogenannte Vorläuferfertigkeiten in der Grund schulzeit für eine maßgebliche Er leichterung des Schriftspracherwerbs verantwortlich. 10 Die Familie trägt demnach also als »informelle Sozialisationsinstanz« 11 eine entscheidende Verantwortung, und es ist nicht nur Recht, sondern auch Pflicht der Eltern, für die Erzie hung und die Pflege ihrer Kinder Sor ge zu tragen – und dies natürlich nicht erst mit dem Schuleintritt. 12 Wie aber soll und kann sich die Verantwor tung für die (Sprach-)Bildung und die Literalität von Kindern sinnvoll auf die Familien und die Bildungsinstitutio nen verteilen? Im Hinblick auf die Herausforderung der Sprachförderung durch Familie und Elternhaus besteht eine gedop pelte – und letztlich wechselseitig Wirksamkeit entfaltende – Voraus setzung: Auf der einen Seite sollen insbesondere jüngere Kinder von An fang an »in der Familie in ihrer sprachlichen und schriftsprachlichen Entwicklung gefördert« und auf der anderen Seite deren »Eltern [...] aktiv darin unterstützt [werden], den Sprach- und Schriftspracherwerb ih rer Kinder zu fördern« 13 . Während der erste Teil dieser beiden Vorbedingun gen also klar der Familie und deren Zuständigkeitsbereich zugeordnet werden kann, fällt letztere Aufgabe den Kitas, der Schule – der Primar- und der Sekundarstufe –, aber auch sozialen Einrichtungen wie der Ju gendhilfe oder den Jugend- und Sozi alämtern zu. Ohne diese grundlegen den Unterstützungsmechanismen und die Information und Aufklärung

bezüglich der Relevanz der Sprachför derung von Anfang an werden weitere Fördermaßnahmen, die in Kita und Schule anlaufen und durchgeführt werden, zwar zur Erhöhung von Chan cen- und Bildungsgerechtigkeit bei tragen, diese aber nicht garantieren und nachhaltig gewährleisten können. 14 Dass genau dieser Umstand von bildungspolitischer Seite längst erkannt wurde, belegen in Hessen die bereits entwickelten und erfolgreich umgesetzten Maßnahmen, die einer seits die frühe Sprachförderung in den Blick nehmen (zum Beispiel mit den verpflichtenden Vorlaufkursen für Kinder, deren Deutschkenntnisse zum vorgesehenen Schulbeginn nicht aus reichend vorhanden sind) und die an dererseits zur Stärkung der Bildungs sprache Deutsch beitragen. So hat das Hessische Kultusminis terium mit der Bereitstellung von Lek türeempfehlungen für die sonderpä dagogische Förderung, die Primarstu fe und die Sekundarstufe I in allen Schulformen bereits einen wichtigen Schritt unternommen, um Lehrkräf ten – aber ganz zentral natürlich auch den Eltern und Schülerinnen und Schülern selbst – Lesetipps und Anre gungen für Lektüren an die Hand ge geben, die selbstverständlich nicht nur im Rahmen des Unterrichts be handelt werden sollen, sondern aus drücklich auch für den Hausgebrauch gedacht sind. In diese Lektüreemp fehlungen sind Hinweise und Rück meldungen von Pädagogen, Fortbild nern und Vertreterinnen und Vertre tern der Literaturdidaktik und der Li teraturwissenschaft eingeflossen und sie umfassen in einem weiten Litera turbegriff auch Hörbücher, Graphic Novels oder Bilderbücher. Zudem wur de bei der Auswahl darauf geachtet, Lektüren unterschiedlicher Genres und diverser Themengebiete aufzu führen, die einerseits aktuelle und preisgekrönte Titel umfassen und an dererseits als klassische Schullektü ren von literaturgeschichtlich beson ders prominenten Verfasserinnen und Verfassern gelten dürfen. Gemeinsam ist allen hessischen Lektüreempfeh lungen die grundlegende Intention,

Titelthema

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SCHULE

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