CellitinnenForum 1_2019

Titel | Thema

sichtbare Schmerz auch körperlich manifestiert. Aus meiner Erfahrung heraus weiß ich, dass sich durch die Gespräche oft auch körperliche Schmerzen lösen lassen. Apropos neue Kraft: Den Schmerz anderer zu erleben, auszuhalten und zu begleiten, erfordert viel Kraft. Wie gehen Sie und die Kollegen mit dem Schmerz Ihrer Gäste um? Martina Mann: Unser Team ist sehr gut aufeinander abgestimmt und eingespielt. Wenn einer von uns an die Grenzen kommt, ist es mög- lich, sich auch mal rauszuziehen. Als entlastend erleben wir auch die regelmäßige Teamsupervision und Fallbesprechungen. Außerdem hat jeder von uns so seine Nischen zum Kraftholen. Das können gute so- ziale Beziehungen oder besondere Hobbies sein, in denen wir uns auch fallenlassen und abschalten kön- nen. Ich handwerke für mein Leben gern. Derzeit gestalte ich aus Tellern Etageren. Die kamen auf dem Ba- sar hier im Viertel sehr gut an. Ich arbeite mit den Händen und ent- werfe etwas Neues. Dabei bin ich voll konzentriert und vergesse alles um mich herum. Daneben bereise ich die Welt. Die vielen Eindrücke geben mir Raum und Abstand von meinem Beruf. Tomislav Rubcic: Mich zieht es raus in die Natur. Beim Fahrradfahren oder beim Waldspaziergang mit dem Hund komme ich wieder bei mir an: So schaffe ich es, profes- sionell Nähe und Aufmerksamkeit zu schenken. Ich bin ein gläubiger Mensch und kann viele Belastun- gen mit ins Gebet nehmen – das hilft mir.

Ein G stezimmer im Hospiz St. Marien

hinter, der seelische Schmerz, der sich auf vielfältige Weise äußert. Dafür brauchen wir die unmittel- bare menschliche Zuwendung, die jeder von uns den Gästen schenkt. Die Begründerin der Hospizbewe- gung, Cicely Saunders, spricht von ‚total pain‘, den Rundum-Blick auf den Schmerz. Wie erleben Sie das bei Ihren Gästen?“ Tomislav Rubcic: Wir hören und spüren viele berührende Lebens- geschichten. Ich blicke auf eine lange Berufserfahrung zurück. Waren es vor zehn Jahren noch traumatische Kriegserlebnisse, die bei hochbetagten Gästen am Lebensende hochkamen und ver- schmerzt werden wollten, sind es nun Überlebenstraumata der Nachkriegsgeneration, also sehr grundlegende Themen wie Hun- ger, Heimat, Sicherheit, die sich hier Bahn brechen. Oder auch Schuld und Reue, wenn jemand in diesen harten Zeiten an einem anderen schuldig wurde und vielleicht fünfzig Jahre darüber geschwiegen hat.

Da ist der Wunsch, all das loszu- werden, bevor man geht. Vielleicht auch der Wunsch, den Angehö- rigen davon zu erzählen, sich zu entlasten. Das ist mit viel Schmerz verbunden. Martina Mann: Dazu kommt oft die Frage ‚Gibt es etwas nach dem Tod? Was erwartet mich da? Und wenn ja, was hat mein Leben dazu bewirkt; kommen Strafe und Ge- richt oder der Himmel auf mich zu? Hin und wieder hatten wir auch Gäste im Hospiz, die eine weltliche Strafe absitzen mussten, aber zu krank für den Vollzug waren. Da gab es ein enorm großes Mitteilungs- bedürfnis und Bedauern über das Geschehene. Egal was da kommt, wir werten nicht, sondern begleiten aufrichtig und nah. Tomislav Rubcic: Wir sehen den Menschen und seine innere Not, denn das hilft gegen den einsamen Schmerz: die unbedingte Wert- schätzung, der behutsame Rück- blick auf ein Leben, wie immer es war. Denn oft hat sich dieser un-

22

CellitinnenForum 1/2019

Made with FlippingBook Online newsletter