Blickpunkt Schule 3/2023

gleichzeitig auch beharrend bleiben. Dies ist die besondere Position des Gymnasiums und der gymnasialen Bildung mit Blick auf die gesellschaft lichen Änderungen. Dass es bei Bildung um eine grund legende Veränderung von Selbst- und Weltbildern geht, ist selbstverständ lich. Durch Bildung verändert sich mein Blick auf mich, auf den Nächs ten und auf die Welt. Das war bereits bei Humboldt und auch bei Wolfgang Klafki so. Dass zur Bildung die Ausei nandersetzung mit Schlüsselproble men (Krieg und Frieden, Gerechtigkeit zwischen Menschen und zwischen Menschen und Natur, Digitalisierung etc.) auf der soliden Basis von Fach wissen gehört, auch. Dass es jedoch zu bestimmten Phänomenen oder Problemen eindeutige Haltungen als Produkt von Bildung zu erwerben gilt, das nicht. Ist die eindeutig richtige Haltung als Antwort auf die Klimakri se für jeden der Schülerstreik? Oder ist es zum Beispiel die richtige Hal tung, auf das Erfordernis einer zuneh mend agilen Arbeitswelt mit der Ein stellung, 24/7 erreichbar zu sein, zu reagieren? Ich glaube, dass das Gymnasium, die Gymnasiallehrkräfte, heute be sonders gefordert sind mit ihrer Auf gabe der Vermittlung breiter und ver tiefter Allgemeinbildung, von Wissen schaftspropädeutik und allgemeiner Studierfähigkeit. Auf der Basis eines anspruchsvollen Fachunterrichts sol len die Schülerinnen und Schüler nämlich mit den gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen He rausforderungen vertraut gemacht werden, Problembewusstsein entwi ckeln und lernen, zunehmend mehr perspektivisch an komplexe Probleme und Situationen in unserer Welt he ranzugehen. Und dazu gehört immer die Fachexpertise verschiedener Fä cher auf ein Problem. Fachlichkeit ist nicht entbehrlich, sondern wir brau chen für eine einigermaßen zutref fende Einschätzung beispielsweise des Problems Klimakrise die Fachex pertise aus der Physik, aus der Che mie, aus den Naturwissenschaften, aber eben auch aus der Geografie und

der Geschichte und den Gesell schaftswissenschaften. Die Aufgabe des Gymnasiums heu te ist gerade der intellektuell an spruchsvolle Umgang mit Komplexität – und zwar sowohl in inhaltlicher Hin sicht als auch beim Erwerb von Ein stellungen und Haltungen angesichts nicht (sofort) lösbar erscheinender Probleme unserer Gegenwart und Zu kunft. Überfachlich bedeutet dies u.a. beim Schlüsselproblem Klimakrise auch den Erwerb der sogenannten »Ambiguitätstoleranz«, also den Um gang mit Zwei- beziehungsweise Mehrdeutigkeiten. Hierzu gehören auf fachlicher Ebe ne und als Zugang zur Welt selbstver ständlich die Beherrschung der Bil dungssprache Deutsch, die Mathema tisierungs- und fremdsprachliche Kompetenz auf hohem Niveau sowie entsprechende IT-Fähigkeiten und Fertigkeiten. Und selbstverständlich gehört für die einander nicht substi tuierbaren Zugänge zur Welt auch der Zugang über die ästhetisch-expressi ve Bildung. Wie bedeutsam der musi kalische Zugang zur Welt zum Beispiel als Ausdruck und empathisches In strument der Solidarität mit den Men schen in der Ukraine sein kann, haben wir zum Beispiel in vielen Konzerten erlebt. Gymnasiale Bildung bedeutet in diesem Zusammenhang die Chance und die Pflicht, mit der jungen Gene ration hochkomplexe Schlüsselpro bleme unserer Gesellschaft, wie den Umgang mit der Klimakrise, mit Mi gration, mit kriegerischen Auseinan dersetzungen, mit der gesellschaftli chen Herausforderung der Digitalisie rung wie auch mit künstlicher Intelli genz, fachspezifisch und fächerüber greifend auf hohem Niveau zu durchdenken und verantwortungs bewusst, das heißt auch in Haltungs- und Handlungsalternativen, problem orientiert zu bearbeiten. Getragen, begleitet, initiiert werden solche in der Schule, am Gymnasium provozierten Bildungsprozesse durch Lehrkräfte, die ihre Schülerinnen und Schüler anspruchsvoll unterrichten und begleiten auf ihrem Weg ins Er

wachsenenleben in dieser außeror dentlich schwierigen und von Krisen geschüttelten Zeit mit einem beson ders hohen Arbeitsethos, mit einem hohen Arbeitseinsatz, mit ganzer Kraft – für die geflohenen Schülerin nen und Schüler, für alle unsere Schü lerinnen und Schüler bis zu ihrem Abi tur. Und eben diese hohe Identifikati on mit diesem wichtigen Bildungsab schluss am Gymnasium, dem Abitur, trägt auch durch Krisenzeiten. Wir ha ben es gerade wieder bei den Gymna siallehrkräften erlebt, denn sie haben die Abiturienten mit den – wie häufig unterschlagen – international höchs ten Schulpräsenzzeiten in der Sekun darstufe II, wie es durch die OECD Studie »Bildung auf einen Blick 2021« aufgezeigt wurde, – durchgetragen! Wenn Sie mich nach der Zukunft der Bildung und des Abiturs in einem »weiter gedachten Gymnasium« fra gen, dann antworte ich darauf zu nächst mit einer generellen schuli schen Zielvorstellung, wie ich sie mir als Vorsitzende des Deutschen Philo logenverbandes zum Wohle unserer Gesellschaft wünsche. Denn • dann kehrt in den nächsten Jahren bei allen gesellschaftlichen Part nern die Überzeugung ein, das hohe Leistungsanforderungen in der Schule keine Zumutung für die Schülerinnen und Schüler sind, sondern ein wichtiger und richtiger Beitrag dazu, sie bestmöglich auf die Welt von heute und morgen vor zubereiten! • dann erhalten die Lehrkräfte für ih re hohen Leistungserwartungen an die Schülerinnen und Schüler Rü ckendeckung von allen an Schule Beteiligten und sie erhalten von ih ren Dienstherren hochprofessionel le Fortbildungen und entsprechen de Freistellungen dafür. Längst ist es für die Politik Zeit, innovativ zu agieren, ausreichend gute, berufs begleitende, nachhaltige Lehrer fortbildungen zu initiieren, erfolg reich zu machen, langfristig zu fi nanzieren und wissenschaftlich zu begleiten! Seit über 20 Jahren zei gen Studien: Es braucht gute und nachhaltige Lehrerfortbildung! Die

Perspektiven des Gymnasiums

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SCHULE

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