sic! 06/2017

Der Verfügungsantrag im Kartellverwaltungsverfahren

Dessen ungeachtet wäre wegen der fehlenden Bedeutung von Ver­ fügungsanträgen für die Praxis der Wettbewerbsbehörden (siehe vorne IV.3.) in jedem Fall ein überwiegendes öffentliches Interesse zu verneinen. Zu- dem ist zu beachten, dass bei besonders schützenswerten Personendaten die Abwägung tendenziell eher zugunsten der Privatsphäre Dritter ausfällt 29 .

keit über das Einwendungsverfahren 32 . Eine entsprechende Funktion erfüllt im Kartellgesetz die amtliche Publikation der Untersuchungseröffnung gemäss Art. 28 KG. Diese verschafft Dritten Kenntnis über die Durchführung und den Gegenstand des Kartellverwal- tungsverfahrens und ermöglicht ihnen, sich an der Untersuchung zu betei­ ligen 33 . Darüber hinaus setzt die amt­ liche Publikation die Öffentlichkeit über die von den Wettbewerbsbehörden ermittelten Anhaltspunkte für unzuläs- sige Wettbewerbsbeschränkungen in Kenntnis, über welche von den Medien zumeist eingehend berichtet wird. Art. 28 KG ist daher als Sonderregelung zu qualifizieren, welche die Anwendung von Art. 30a VwVG im Kartellver­ waltungsverfahren grundsätzlich aus- schliesst 34 . Bestätigt wird dieses Er­ gebnis durch Art. 30 Abs. 2 S. 1 KG, nach welchem die «am Verfahren Be­ teiligten» (zur Auslegung siehe hinten VI.) zum Verfügungsantrag Stellung nehmen können. Die Bestimmung setzt die Verfahrensbeteiligung bereits vor- aus. E contrario sollen damit Informa­ tionen über den Verfügungsantrag nicht eine allfällige Verfahrensbeteiligung ermöglichen. Hiergegen kann nicht eingewandt werden, dass dieWettbewerbsbehörden in Massenverfahren keine andere Möglichkeit haben, den Verfahrenspar- teien rechtliches Gehör zu gewähren 35 . 32 Vgl. B. Waldmann/ J. Bickel, in: B. Wald- mann/P. Weissenberger (Hg.), Praxis­ kommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., Zürich 2016, VwVG 30a N 4, 27. 33 B. Zirlick/C. Tagmann, in: M. Amstutz / M. Reinert (Hg.), Kartellgesetz, Basel 2010, KG 28 N 3. 34 Vgl. A. Kölz/ I. Häner/M. Bertschi, Ver- waltungsverfahren und Verwaltungsrechts- pflege des Bundes, 3. Aufl., Zürich 2013, N 1996; S. Bilger, Das Verwaltungsver­ fahren zur Untersuchung von Wettbewerbs- beschränkungen, Freiburg 2002, 200. 35 Vgl. RPW 2010, 649 ff. Rz. 30, «Hors-Liste Medikamente: Preise von Cialis, Levitra und Viagra».

Grundsätzlich ist zu fordern, dass die Wettbewerbsbehörden nur gegen ihnen bekannte Untersuchungsadressaten Verfügungen erlassen. Allgemeinver­ fügungen 36 gegen einen grösseren, nicht individuell bestimmten Kreis von Unternehmen sind nicht zuletzt wegen des bei Sanktionsverfügungen nach Art. 49a Abs. 1 KG zu beachtenden Schuldprinzips 37 abzulehnen. Mithin müssen die Untersuchungsadressaten spätestens im Zeitpunkt des Abschlus- ses der Ermittlungen individualisiert sein 38 . Die in der Vergangenheit prakti- zierte amtliche Publikation des Ver- sands des Verfügungsantrags ist im Er- gebnis als unzulässig zu erachten 39 . Der Vollständigkeit halber ist schliess- lich darauf hinzuweisen, dass das Geschäftsreglement der WEKO keine taugliche Rechtsgrundlage für die Ver- öffentlichung von Verfügungsanträgen bietet 40 . Das Geschäftsreglement wird von der WEKO erlassen (Art. 20 Abs. 1 KG) und vom Bundesrat genehmigt (Art. 20 Abs. 2 KG). Damit handelt es sich nicht, wie vorausgesetzt, um ein Gesetz im formellen Sinn, das heisst 36 Siehe hierzu F. Uhlmann, in: B. Wald- mann/P. Weissenberger (Hg.), Praxis­ kommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., Zürich 2016, VwVG 5 N 52 ff. 37 Vgl. ausführlich BVGer vom 14. September 2015, B-7633/2009, E. 643 ff. 38 Zur Untersuchungseröffnung gegen einen noch nicht feststehenden Adressatenkreis vgl. Zirlick/Tagmann (Fn. 33), KG 28 N 11. 39 Anderer Auffassung, aber ohne Begründung B. Zirlick/C. Tagmann, in: M. Amstutz / M. Reinert (Hg.), Kartellgesetz, Basel 2010, KG 30 N 21, nach welchen bei einer grossen Anzahl von Beteiligten und langen Entscheid- entwürfen allenfalls auch eine Publikation im Internet nicht ausgeschlossen erscheine. 40 Dasselbe gilt im Übrigen für Bekannt­ machungen der WEKO und Verordnungen des Bundesrates nach Art. 6 Abs. 3 bzw. Aus- führungsbestimmungen des Bundesrates nach Art. 60 KG. 6. Geschäftsreglement keine ausreichende gesetzliche Grundlage

5. Art. 30a Abs. 1 VwVG im

Kartellverwaltungsverfahren nicht anwendbar

Es stellt sich weiter die Frage, ob für die Sonderkonstellation der Massenver­ fahren besondere Regeln gelten. Im Fall «Sanphar» beriefen sich die Wett­ bewerbsbehörden ausdrücklich auf Art. 30a Abs. 1 VwVG für die amtliche Bekanntgabe des Versands des Verfü- gungsantrages 30 . Das Kartellgesetz enthält keine Art. 30a Abs. 1 VwVG entsprechende Bestimmung. Mit Art. 43 Abs. 2 KG besteht nur eine Sonderregelung für die obligatorische Vertretung Dritter ohne Parteistellung in Massenverfahren. Art. 30a Abs. 1 VwVGwäre nur anwend- bar, sofern das Kartellgesetz nicht im Sinne von Art. 39 KG bewusst vom VwVG abweicht 31 . Dies ist nach der hier vertretenen Auffassung der Fall. Art. 30a VwVG bezweckt, Dritten die Geltendmachung ihrer Parteistel- lung und Parteirechte zu ermöglichen sowie die Information der Öffentlich- 29 Vgl. Ehrensperger (Fn. 27), DSG 19 N 46; C. Mund, in: B. Baeriswyl /K. Pärli (Hg.), Stämpflis Handkommentar zum Daten- schutzgesetz (DSG), Bern 2015, DSG 19 N 31. 30 Vgl. A. Waser, Grundrechte der Beteiligten im europäischen und schweizerischen Wett- bewerbsverfahren, Zürich 2002, 227 ff. 31 Zu den Schranken des in Art. 39 KG erfolgen- den Verweises auf das VwVG vgl. S. Bilger, in: M. Amstutz /M Reinert (Hg.), Kartellge- setz, Basel 2010, KG 39 N 4, 14.

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