sic! 06/2017

FORUM – ZUR DISKUSSION  |  A DISCUTER

Wenn der Lizenz​geber bezahlt: «Reverse Payment»-Vereinbarungen im Visier des Kartellrechts

Buchbesprechung * A lfred F rüh **

I. Begriffe

oder Teilnichtigkeit des Vergleichs­ vertrags und möglicherweise obendrein saftige Bussgelder. Die Thematik ist in Bewegung: In den USA bildet sich gegenwärtig bei den unteren Instanzen auf der Basis eines Leitentscheids des Supreme Court 1 eine vereinheitliche Praxis heraus. In der EU sind gleich auf mehreren Ebenen Ge- richte mit Verfahren über «Reverse Payment»-Vereinbarungen beschäftigt: Die vom EuG am 8. September 2016 veröffentlichte «Lundbeck»-Entschei- dung 2 wurde an den EuGH weiterge­ zogen 3 . Und am 30. September 2016 veröffentlichte die Europäische Kom- mission sodann ihre epische Entscheid- begründung im jüngeren Verfahren «Perindopril (Servier)» 4 . Alle davon betroffenen Parteien haben beim EuG Klage erhoben 5 . Etwas anders sieht es in der Schweiz aus: Trotz der wichtigen Rolle der Pharmaindustrie haben «Re- verse Payment»-Vereinbarungen die  1 «FTC v. Actavis, Inc.», 12-416 vom 17. Juni 2013.  2 EuG vom 8. September 2016, Rs. T-472/13, «Lundbeck/Kommission».  3 EuGH, Rs. C-591/16, «Lundbeck /Kommis- sion».  4 Siehe Case AT.39612, «Perindopril (Ser- vier)». Die Entscheidbegründung umfasst mehr als 800 Seiten.  5 EuG, Rs. T-705/14, «Unichem Laboratories/ Kommission»; EuG, Rs. T-701/14, «Niche Generics/Kommission»; EuG, Rs. T-691/14, «Servier u.a. /Kommission»; EuG, Rs. T-684/14, «Krka /Kommission»; EuG, Rs. T-682/14, «Mylan Laboratories /Kommis- sion»; EuG, Rs. T-680/14, «Lupin/Kommis- sion»; EuG, Rs. T-679/14, «Teva/Kommis- sion»; EuG, Rs. T-677/14, «Biogaran/Kom- mission».

Vergleichsvereinbarungen betreffend patentrechtliche Streitigkeiten im Pharmasektor sind in den vergangenen Jahren immer mehr ins Visier des Kar- tellrechts geraten. Der Beitrag zeigt unter Bezugnahme auf eine neuere Dissertation den Stand der Entwick- lungen, öffnet die Perspektive und be- leuchtet die Rechtslage in der Schweiz. Au cours de ces dernières années, les accords à l’amiable concernant des litiges en matière de brevets dans le secteur pharmaceutique ont de plus en plus souvent été dans le viseur du droit des cartels. Se référant à une récente thèse de doctorat sur le sujet, la présente contribution propose un état de lieux, élargit la perspective et examine la situation juridique en Suisse. II. Bedeutung und Aktualität III. Eigenheiten des Pharmasektors IV. Kernprobleme bei der Anwendung des Kartellrechts auf «Reverse Payments» VI. Zum Verhältnis von Immaterialgüter- und Kartellrecht VII. «Reverse Payments» als multikausales Problem Zusammenfassung  |  Résumé Die Praxis in den USA und in Europa V. * Filipe Fischmann, «Reverse Payments» als Mittel zur Beilegung von Patentstreitigkeiten – Ein Verstoss gegen das Kartellrecht, Bern 2016, ISBN 978-3-7272-0677-1. ** Dr. iur., RA, Geschäftsführer des Center for Information Technology, Society, and Law (ITSL) an der Universität Zürich. I. Begriffe

Vergleichsvereinbarungen sind ins Vi- sier des Kartellrechts geraten. Von «Re- verse Payments» ist dann die Rede, wenn bei Vergleichsvereinbarungen Immaterialgüterrechte betroffen sind und Geld vom Rechteinhaber an den potenziellen Nutzer des geschützten Immaterialguts fliesst – also gerade an- dersherum, als dies typischerweise bei Lizenzgebühren der Fall ist. Anzutreffen ist auch der Begriff der «Pay for delay»- Vereinbarung. Er setzt keine Immateri- algüterrechte voraus und indiziert, dass die kartellrechtlich möglicherweise verpönte Verhaltensweise darin liegt, den Markteintritt eines Konkurrenten zu verzögern oder zu verhindern. Die Verwendung beider Begriffe ist – soweit ersichtlich – bislang auf den Arzneimit- telbereich beschränkt; es geht in der Regel also um Zahlungen vom Herstel- ler von Originalpräparaten an einen Generikahersteller. Das Thema ist von ungemeiner prakti- scher Bedeutung: Zum einen ist mit der Arzneimittel- und Pharmaindustrie ein wichtiger Treiber des wirtschaftlichen Ökosystems westlicher Industrienatio- nen betroffen. Zum anderen dürfte die Nachricht, der Vergleichsvertrag als Wunderwaffe der Streitbeilegung berge kartellrechtliche Risiken, manchem Entscheidungsträger und Unterneh- mensjuristen erhebliche Sorgen be­ reiten. Immerhin drohen die Nichtigkeit II. Bedeutung und Aktualität

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