sic! 06/2017

FORUM – ZUR DISKUSSION  |  A DISCUTER

der rule of reason zu beurteilen; die von der FTC propagierte, strengere quick look-rule wurde verworfen. Die über- stimmten Richter waren sogar der An- sicht, die Kartellrechtswidrigkeit einer Vergleichsvereinbarung hänge so oder so vom Umfang des Patents ab und liesse sich folglich ohne Beurteilung des Patents im Rahmen eines Nichtigkeits- prozesses gar nicht kartellrechtlich be- urteilen. Dass die Mehrheit des Supreme Court dieser letzteren Ansicht nicht folgte, deutet Fischmann zu Recht als Abkehr von der Inhaltstheorie hin zur Komplementarität von Immaterialgü- ter- und Kartellrecht. Trotz tiefer Durch- dringung der Entscheide und einer um- fassenden Einbettung der Thematik in den Kontext der Pharmaindustrie lässt einen die Darstellung der US-amerika- nischen Rechtslage betreffend «Reverse Payment»-Vereinbarungen in Fisch- manns Werk etwas ratlos zurück, weil klare Kriterien für die kartellrechtliche Unzulässigkeit fehlen. Dies ist aber kein Versäumnis des Autors; gerade im am Fallrecht orientierten common law muss sich die eigentliche Praxis erst noch aus- bilden. Im europäischen Recht stellt sich zunächst das Problem, dass weder das Patentrecht noch das Vertragsrecht um- fassend harmonisiert oder vereinheit- licht sind. Der Autor handelt deswegen exemplarisch am deutschen sowie am englischen Recht umfassend vertrags- rechtliche und patentrechtliche Aspekte ab, bevor er sich schliesslich dem euro- päischen Recht widmet. Erörtert wer- den auch die einschlägigen Regeln der TT-GVO und deren Leitlinien. In Letzte- ren sind die (in der «Lundbeck»-Ent- scheidung der Kommission aufgestell- ten) Grundsätze zur Behandlung von «Reverse Payment»-Vereinbarungen niedergelegt. Der Autor vertritt die Auf- fassung, die Kommission habe sich bei der Revision der TT-GVO im Jahr 2014 von der einst recht permissiven Haltung zu Nichtangriffsabreden verabschiedet, weil sie im Rahmen der Sektoruntersu-

chung im Pharmabereich auf etliche problematische Verhaltensweisen ge- stossen sei. In «Servier» 11 , «Lundbeck» 12 , «Cephalon» 13 und «Fentanyl» 14 , den Leitentscheiden des Europäischen Kar- tellrechts zu «Reverse Payment»-Verein- barungen, kam die Kommission jeweils zum Schluss, es handle sich um eine bezweckteWettbewerbsbeschränkung. Fischmann fasst zusammen, dass eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung nach Ansicht der Kommission vorliege, wenn die Parteien zumindest poten- zielleWettbewerber seien, der Vergleich die Bestrebungen des Generikaherstel- lers betreffendMarkteintritt beschränke und einen Vermögenstransfer an den Generikahersteller beinhalte, der des- sen Anreiz zum Markteintritt herab- setze. Nach der Auffassung von Fisch- mann lassen sich «Reverse Payment»- Vereinbarungen auch im Lichte der jüngeren «Cartes Bancaires»-Rechtspre- chung des EuGH 15 als bezweckte Wett- bewerbsbeschränkungen einstufen. Dies hat zumindest das EuG in der Sache «Lundbeck» mittlerweile be­ stätigt 16 . Anzufügen ist noch, dass die Kommission in ihren Entscheiden auf eine Vielzahl vorgebrachter Effizienz- 11 Siehe vorn Fn. 4. Das Originalpräparat ist ein Medikament zur Behandlung von Bluthoch- druck bzw. Herz-Kreislauf-Problemen mit dem Wirkstoff Perindopril. 12 Siehe Case AT 39.226 sowie vorn Fn. 2. Das Originalpräparat ist ein Antidepressivummit dem Wirkstoff Citalopram. 13 Siehe Case AT 39.686. Dieser Fall betraf das zur Behandlung von Schlafstörungen einge- setzte Generikum Modafinil. 14 Europäische Kommission vom 10. Dezember 2013, COMP/AT.39685, «Fentanyl». Fenta- nyl ist der Name des von der Vereinbarung der beteiligten Unternehmen betroffenen Schmerzmittels. 15 Vgl. EuG, Urteil vom 30. Juni 2016, Rs. T-491/07 RENV, «Groupement des cartes bancaires (CB) /Kommission», sowie zuvor EuGH, Urteil vom 11. September 2014, Rs. C-67/13, «Groupement des cartes ban- caires (CB) /Kommission». 16 EuG vom 8. September 2016, Rs. T-472/13, «Lundbeck /Kommission», Rn. 417–477.

gewinne einging, letztlich aber keinen davon berücksichtigte. Das entspricht der Vorgabe, dass nach EU-Recht auch bezweckte Wettbewerbsbeschränkun- gen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freige- stellt werden können, dies aber als un- wahrscheinlich gilt. Im Ergebnis bestehen in beiden Jurisdiktionen immer noch Unklarhei- ten bei der Beurteilung von «Reverse Payment»-Vereinbarungen. In den USA folgt dies aus der Tatsache, dass die un- teren Gerichte nach dem «Actavis»- Entscheid des Supreme Court zunächst einmal Kriterien für eine Anwendung der rule of reason auf diese Vereinbarun- gen entwerfen müssen. In der EU ergibt sich diese Unsicherheit nach der Dar- stellung des Autors eher aufgrund di- vergierender Wertungen der Kommis- sion und der älteren Praxis des EuGH zu Vergleichsvereinbarungen und Nichtangriffsklauseln. Ein wesentlicher Punkt in den bisheri- gen europäischen Verfahren betraf zunächst die Frage, ob der Originalprä- paratehersteller und der Generikaher- steller überhaupt miteinander imWett- bewerb stehen. Dreh- und Angelpunkt war dabei der Begriff des potenziellen Wettbewerbs. Nach der vom EuG ge- stützten Auffassung der Kommission kann potenzieller Wettbewerb bereits dann bestehen, wenn noch keine Markt- zulassung des Generikums vorliegt. Bei der konkreten Prüfung der Wettbewerbsbeschränkung sorgt dann weiter die Frage für Kopfzerbrechen, ob die Stärke des infrage stehenden Pa- tents bei der kartellrechtlichen Beur­ teilung eine Rolle spielen soll oder muss. In den Entscheidungen der Kom- mission spielt die Stärke des Patents keine oder eine untergeordnete Rolle. V. Kernprobleme bei der Anwendung des Kartellrechts auf «Reverse Payments»

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