sic! 06/2017

Alfred Früh – Wenn der Lizenzgeber bezahlt: «Reverse Payment»-Vereinbarungen im Visier des Kartellrechts

Wüsste man indes, ob das Patent rechts- beständig ist oder nicht, böte die kar- tellrechtliche Beurteilung kaum mehr Probleme: Bei Gültigkeit dürfte der Verzicht auf die Markteinführung kar- tellrechtlich nicht zu beanstanden sein, weil der Rechteinhaber (unter der An- nahme, dass das Generikum das noch gültige Patent tatsächlich verletzt) nicht mehr erhält, als ihm ohnehin zusteht. Stünde hingegen die Ungültigkeit des Patents fest, wäre der Versuch, dieses rechtliche Monopol als vertraglichen Ausschluss vomMarkt zu perpetuieren, kartellrechtlich unzulässig. Erst die Ungewissheit über die Rechtsbeständig- keit des Patents macht die kartellrecht- liche Beurteilung schwierig, und der Abschluss des Vergleichsvertrages sorgt dafür, dass die Frage der Rechtsbestän- digkeit unbeantwortet bleibt. Hier vertritt Fischmann entgegen dem An- satz der Kommission die Auffassung, die Stärke des Patents sei relevant 17 . Ein Vergleich verstosse demnach gegen das Kartellrecht, wenn die Streitparteien zumZeitpunkt der Vereinbarung wüss- ten, dass das Streitpatent die Patentie- rungsvoraussetzungen nicht erfülle. Er stützt sich dabei auf einen Ansatz des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) 18 . Dennoch mag man sich fragen, wie man in der Praxis zu einer realistischen Ein- schätzung der Rechtsbeständigkeit des Patents kommt. Sowohl Fischmann als auch die Kommission erkennen indes, dass die Stärke des Patents – selbst wenn sie explizit ausgeblendet wird – ökono- misch mit der Höhe der Zahlung des Originalpräparateherstellers an den Generikahersteller verknüpft ist: Je mehr sich der Patentinhaber auf sein Schutzrecht verlassen kann, desto weniger rechtfertigt es sich für diesen, 17 Fischmann (Fn. 7), 414 ff. und 534 ff. 18 Dieser zieht in Betracht, ob ein Anspruch (hier: jener des Rechtsinhabers) «ernsthaft und objektiv begründet» durchgesetzt wer- den kann, siehe BGH vom 22. Mai 1975, Az. KZR 9/74, «Thermalquelle».

eine Geldleistung zu erbringen. Die Höhe der Zahlung hängt also von den Prozesschancen ab, die sich die Parteien ausrechnen. Entsprechend ist das Vor- liegen einer Zahlung eines der massgeb- lichen Kriterien für das kartellrechtliche Eingreifen. Zwar leuchtet ohne Weite- res ein, dass ein «Auskauf» von Konkur- renten unter kartellrechtlichen Ge- sichtspunkten nicht zulässig sein dürfte. Wo indes die Grenze der Zulässigkeit zu ziehen ist, bleibt unklar. Geldflüsse sind bei Vergleichen üblich; welche Leistun- gen sich dabei aber gegenüberstehen, ist oft weniger wichtig als die Beilegung der Streitigkeit an sich. Während für die Kommission «unverhältnismässige Zah- lungen» problematisch sind 19 , zieht Fischmann die Grenze der Zulässigkeit bereits, wenn überhaupt Geld vom Ori- ginalpräparatehersteller zumGenerika- hersteller fliesst. Beide erkennen aber gleichwohl, dass die Berücksichtigung sämtlicher Geldflüsse zwischen den Parteien in der Praxis ein echtes Prob- lem darstellen kann. Eine wirklich klare Richtschnur zur kartellrechtlichen Beurteilung scheint sich erst langsam herauszubil- den. Weil noch einiges im Ungefähren bleibt, hätte man sich in der Arbeit Fischmanns bisweilen eine «klassi- schere» Darstellung gewünscht, bei der der komplexe Sachverhalt im Rahmen der Tatbestandsmerkmale der kartell- rechtlichen Normen behandelt wird. Auf dieseWeise hätte man die einzelnen Kriterien – wie eben die Stärke des Pa- tents, die Höhe der Zahlung an den Ge- nerikahersteller und die effektive Ver- zögerung oder Verhinderung des Markt- eintritts – genauer untersuchen können. So bleibt es aber gegenwärtig schwierig, bei der Redaktion eines Vergleichsver- trags die Grenze der Zulässigkeit klar zu erkennen. Das gilt aufgrund des auch in den USA und der EU geltenden Aus-

wirkungsprinzips selbstverständlich auch, wenn der Vergleichsvertrag dem Schweizer Recht unterstellt werden sollte.

VI. Zum Verhältnis von

Immaterialgüter- und Kartellrecht

Zum wiederholten Mal 20 bringen die «Reverse Payment»-Vereinbarungen die Frage nach dem Zusammenwirken von Immaterialgüter- und Kartellrecht ans Licht. Folgt man etwa der Minderheits- meinung des Supreme Court in «Actavis» und argumentiert im Sinne der (über- kommenen) Inhaltstheorie, die Kartell- rechtswidrigkeit einer Vergleichsverein- barung hänge vomUmfang des Patents ab und liesse sich ohne Beurteilung des Patents im Rahmen eines Nichtigkeits- prozesses gar nicht beantworten, braucht das Problem kartellrechtlich gar nicht angefasst zu werden. Betrach- tet man das Problem aber im Lichte der allgemein akzeptierten Komplementa- ritätsthese, werden «Reverse Payments» kartellrechtlich relevant, weil es um die Frage geht, wie sich die Vergleichsver- einbarung tatsächlich auf dem Markt auswirkt. Sollte die Schweiz dereinst mit diesen Fragen konfrontiert sein, darf der immer noch im Gesetz verankerte und von der Inhaltstheorie inspirierte Art. 3 Abs. 2 KG die Anwendung des Kartellrechts nicht verhindern 21 . Auch wenn sich die Schweizer Wettbewerbs- kommission (WEKO) durch den Art. 3 Abs. 2 KG kaum mehr eingeschränkt

20 Man denke nur an die Erschöpfungsproble- matik, die kartellrechtliche Beurteilung von Lizenzverweigerungen oder die Diskussion um standardessenzielle Patente. 21 Grundlegend R.M. Hilty, in: Basler Kom- mentar zum Kartellgesetz, M. Amstutz /​ M. Reinert (Hg.), Basel 2010, KG 3 Abs. 2 N 21 ff.

19 Siehe nun auch EuG vom 8. September 2016, Rs. T-472/13, «Lundbeck /Kommission», Rn. 355.

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