sic! 06/2017

Stefan G. Fuchs – Stellungnahme G 1/15 der Grossen Beschwerdekammer

schränkte Zahl eindeutig definierter al­ ternativer Gegenstände beansprucht wird» (Hervorhebung des Verfassers). Diesen Halbsatz wörtlich interpretie- rend, sollte daher eine Teilpriorität ausscheiden, wenn der Anspruch der Nachanmeldung nicht aus sich selbst heraus abgrenzbare alternative Schutz- gegenstände erkennen liess. Folglich wurde eine Teilpriorität z.B. dann ver- weigert, wenn der Anspruch der Nach- anmeldung eine verallgemeinerte nu- merische Bereichsangabe enthielt, da diese unbegrenzt viele Gegenstände umfasse und gerade keine begrenzte Anzahl eindeutig definierter Gegen- stände i.S.v. G 2/98 (Rz. 6.7) 5 . ImGegensatz dazu wollten andere Beschwerdekammern G 2/98 deutlich weiter verstanden wissen und ver­ folgten einen «konzeptuellen» Ansatz bei der Bestimmung der beschränkten Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände (siehe insbesondere T 1222/11) 6 . So sollte es ausreichen, dass sich der Anspruch der Nachanmel- dung zumindest gedanklich unter Hin- zuziehung der Prioritätsanmeldung in zwei Bereiche unterteilen lässt; nämlich zum einen in den vom Anspruch der Nachanmeldung umfassten spezielleren Gegenstand der Prioritätsanmeldung und zum anderen in den restlichen, hie- rüber hinausgehenden Bereich des An- spruchs.

Prioritätsanmeldung

Nachanmeldung

A+B

A+B

Art. 87 (1) EPÜ (+)

mit

mit

Ausführungsbsp. (Example 1)

Ausführungsbsp. (Example 1)

– Art. 76(1) EPÜ (+)

– Besteht die Möglichkeit einer Kollision?

– Art. 87(1) EPÜ (?)

Nachanmeldung Teilanmeldung (Streitpatent)

– Kommt eine Teilpriorität in Betracht?

A′+B′

mit

Ausführungsbsp. (Example 1)

Die Teilanmeldung (das Streit­ patent in T 557/13) betrifft eine Stoff- zusammensetzung eines Kaltfluss­ verbesserers. Der Anspruch der Teil­ anmeldung wurde gegenüber dem Prioritätsdokument dadurch generali- siert, dass zum einen die Stoffgruppe «der Substituenten-NR13NR14» ver- breitert und zum anderen eine nume­ rische Bereichsangabe von «0,01% – 1%» auf «0,001% – 1%» erweitert wurde. Die Stammanmeldung ist hingegenmit dem Prioritätsdokument identisch. In allen Anmeldungen (Prioritäts-, Stamm- und Teilanmeldung) findet sich zudem ein und dasselbe bevorzugte Ausführungs- beispiel (Example 1) einer anspruchs- gemässen Stoffzusammensetzung. Die Einspruchsabteilung des EPA hatte entschieden, die Teilanmeldung ent- spreche zwar den Anforderungen des Art. 76(1) EPÜ 3 . Sie sei jedoch nicht neu, da aufgrund des in allen An­ meldungen identisch enthaltenen Aus- führungsbeispiels (Example 1) die Stammanmeldung der Teilanmeldung nach Art. 54(3) EPÜ neuheitsschädlich Vorlage an die Grosse Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts?, sic! 2015, 503 ff.  3 Dies wird von der TBK auch nicht angezwei- felt (Rz. 2 von T 557/13).

entgegenstehe. Denn die Stammanmel- dung könne im Gegensatz zur Teil­ anmeldung, die keine (Teil-)Priorität geniesse, die Priorität der früheren An- meldung beanspruchen. Bildlich betrachtet stellt sich die Situation daher folgendermassen dar (A′ und B′ sind jeweils Verallgemeine- rungen von A und B) (siehe Grafik): Hinsichtlich der Zuerkennung einer Teilpriorität hatte sich im An- schluss an die Stellungnahme G 2/98 der GBK aus dem Jahr 2001 eine Recht- sprechungslinie einiger Beschwerde- kammern herausgebildet, die eine Teil- priorität innerhalb eines Patentan- spruchs der Nachanmeldung nur sehr restriktiv zuliess (siehe insbesondere T 1127/00) 4 . Auslöser hierfür waren die Ausführungen in Rz. 6.7 von G 2/98, wonach die «Verwendung eines generi- schen Begriffs oder einer Formel in einem Anspruch, für den gemäss Art. 88(2) EPÜmehrere Prioritäten be- ansprucht werden, […] nach den Art. 87(1) und 88(3) EPÜ durchaus akzeptabel [ist], sofern dadurch eine be 4 Eine enge Auslegung befürworten u.a. auch T 537/03, T 70/05, T 184/06, T 609/05, T 1443/05, T 1877/08, T 1496/11, T 476/09, T 2311/09, T 2406/10.

II. Stellungnahme G 1/15

In ihrer Stellungnahme G 1/15 vom 29. November 2016 spricht sich die GBK nun für eine grosszügige Handhabung von Teilprioritäten aus und folgt damit dem «konzeptuellen Ansatz» aus T 1222/11. Dieser war im Vorfeld in Wissenschaft und Praxis mehrheitlich befürwortet worden, insbesondere von

 5 Siehe z.B. T 1877/08, Rz. 2.4.  6 Eine weite Auslegung bevorzugen u.a. auch T 135/01, T 665/00, T 910/06, T 571/10.

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