sic! 06/2017

BERICHTE  |  RAPPORTS

Bremi in seinem Beitrag in dieser Zeit- schrift aus dem Jahr 2015 7 . Auch die bei der Grossen Beschwerdekammer einge- reichten Amicus-Curiae-Schreiben ver- deutlichten dies 8 . Das Problem «giftiger Teilanmeldungen» ist damit entschärft. Zugleich hält die Kammer aber am «Goldstandard» aus G 2/98, G 1/03 und G 2/10 für die einheitliche Bestimmung des Offenbarungsgehalts im Rahmen der Prioritätsprüfung sowie für die Prü- fung einer unzulässigen Erweiterung fest und macht Vorgaben für die Vorge- hensweise bei der Prioritätsprüfung im Zusammenhang mit Teilprioritäten. 1. Rz. 6.7 aus G 2/98 ist nicht als Einschränkung des Prioritäts- rechts für generische «Oder»- Ansprüche zu verstehen. Die GBK geht zunächst auf die gemein- samen rechtlichen Grundlagen in den Art. 87 – 89 EPÜ und Art. 4 Pariser Ver- bandsübereinkunft (PVÜ) ein 9 und be- tont der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammer entsprechend, dass es sich bei der Priorität um ein durch internationale Verträge und na- tionales Recht etabliertes «Recht» handle, welches nicht durch zusätzliche Voraussetzungen beschränkt werden könne, sei es durch Verwaltungsvor- schriften, Richtlinien oder Rechtspre- chung. Dieses Recht geniesse der An- melder nach Art. 87(1) EPÜ nur in Be- zug auf «dieselbe Erfindung». Eine Regelung gleichen Inhalts sieht die GBK in Art. 4C PVÜ – trotz dessen abwei- chenden Wortlauts. Die Wirkung des Prioritätsrechts beschreibt die GBK dahin gehend, dass eine Kollision eines im Prioritätsintervall offenbarten Ge- genstands mit einem Gegenstand, der

bereits im Prioritätsdokument offenbart wurde, ausgeschlossen werde. Sodann wendet sich die GBK spe- ziell Teil- undMehrfachprioritäten zu 10 . Nach Art. 88(3) EPÜ umfasse das Prio- ritätsrecht auch Situationen, in denen nur Teile der Nachanmeldung (z.B. ein Teil des vom Anspruch umfassten Schutzgegenstands) die Priorität einer oder mehrerer Prioritätsanmeldungen geniesse. Dabei seien die «elements» (in der deutschen Fassung des Art. 88[3] EPÜ «Merkmale»), die unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung bzw. den früheren Anmeldungen entnom- men werden könnten, für die Teilprio- rität massgeblich. Die restlichen «ele- ments» begründeten ihrerseits eine Priorität für spätere Anmeldungen. Die GBK bekräftigt dabei ihre bereits in G 2/98 vorgenommene Interpretation von Art. 88(3) EPÜ, wonach der Begriff «element» nicht als einzelnes «An- spruchsmerkmal» zu verstehen sei, son- dern als «Gegenstand», wie er in einem Anspruch offenbart oder in einem Aus- führungsbeispiel spezifiziert werde. Für den Fall, dass der Anspruch der Nach- anmeldung breiter als der im Prioritäts- dokument offenbarte Gegenstand sei, könne die Priorität auch nur für diesen Gegenstand beansprucht werden. Es komme auch nicht darauf an, ob ein Anspruch, für den eine Priorität bean- sprucht werde, nur einen oder eine Mehrzahl von in einem oder mehreren Prioritätsdokumenten offenbarten Ge- genständen umfasse, da dieser Fall einer Mehrfachpriorität innerhalb eines Anspruchs ausdrücklich von Art. 88(2) EPÜ geregelt werde. Zur Untermauerung ihrer Argu- mentation zieht die GBK – wie auch schon in G 2/98 – das Memorandum C der FICPI 11 heran, das die zugrunde lie- genden Intentionen der Prioritätsrege- lungen des EPÜ zum Ausdruck bringe

und ein wesentlicher Faktor bei deren Formulierung gewesen sei. Dieses führe ausdrücklich Situationen an, in denen generischen «Oder»-Ansprüchen (also Ansprüchen, die zu breit seien, um von der Offenbarung des ersten Prioritäts- dokuments gestützt zu werden) Mehr- fachprioritäten innerhalb eines An- spruchs zuerkannt werden sollten, nämlich bei Verallgemeinerungen einer chemischen Formel, einer numerischen Bereichsangabe oder des Anwendungs- gebiets. Für Teilprioritäten dürften keine anderen Massstäbe gelten. Darüber hinaus sei diese Aus­ legung der Prioritätsregelungen des EPÜ mit Art. 4 PVÜ vereinbar. Art. 4F PVÜ, der 1958 eingefügt worden sei, um dem Umstand gerecht zu wer- den, dass eine Erfindung auch noch nach Einreichung der Prioritätsanmel- dung weiterentwickelt werde, regle insbesondere die Möglichkeit von Teil- prioritäten. Daher könne nicht ange- nommen werden, dass das EPÜ noch andere Voraussetzungen als das Merk- mal «dieselbe Erfindung» für die Zuer- kennung eines Prioritätsrechts enthalte, sei es für eine einfache, eine mehrfache oder eine nur teilweise Priorität. Folg- lich könne Rz. 6.7 von G 2/98 nicht dahin gehend verstanden werden, dass eine Einschränkung des Prioritätsrechts vorgenommen werde. Nach dieser Auslegung ist auch für die Zuerkennung einer Teilpriorität alleinig «dieselbe Erfindung» i.S.d. Art. 87(1) EPÜ massgeblich. Daher widmet sich die GBK im letzten Teil ihrer Stellung- nahme diesem Merkmal und macht konkrete Vorgaben zur Vorgehensweise bei der Prioritätsprüfung 12 . Für die Auslegung des Merkmals «dieselbe Erfindung» des Art. 87(1) EPÜ soll – wie bereits in G 2/98 entschie- 2. Vorgaben für die Prioritäts­ prüfung

 7 Bremi (Fn. 2), 510 ff.  8 Eine Übersicht findet sich unter (24. April 2017).  9 Rz. 4.1–4.4 von G 1/15.

10 Rz. 5.1 - 5.3 von G 1/15. 11 Travaux Préparatoires zumEPÜ 1973, Doku- ment M 48/I.

12 Rz. 6.1 – 6.7 von G 1/15.

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