sic! 06/2017

Frank Bremer  |  Désirée Stebler

1. Beachtung der Unschulds­ vermutung gemäss Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK Die Unschuldsvermutung 46 ist verletzt, wenn aus der Mitteilung des Verfü- gungsantrags eine Vorverurteilung der Untersuchungsadressaten in der Öffent- lichkeit resultiert. Problematisch ist, dass Mitteilun- gen des Sekretariats von der Öffentlich- keit dahingehend missverstanden wer- den können, dass die Ermittlungen mit dem Versand des Verfügungsantrags beendet seien und die Wettbewerbsbe- hörden bereits Sanktionen ausgespro- chen hätten. Entsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Fall ausdrücklich bestätigt, dass die Medienberichterstattung den Eindruck erweckt habe, dass die Untersuchung der WEKO abgeschlossen sei 47 . Dieser Eindruck ist massgeblich darauf zurückzuführen, dass die Öffent- lichkeit vielfach nicht zwischen der WEKO und ihrem Sekretariat als eigen- ständigen und grundsätzlich vonein­ ander unabhängigen Wettbewerbsbe- hörden 48 unterscheidet. Ein Verstoss gegen die Unschuldsvermutung wurde dennoch bisher durch das Bundesver- waltungsgericht und dieWEKOmit dem Argument verneint, dass sich aus den Medienmitteilungen klar ergebe, dass der verfahrensabschliessende Entscheid der WEKO noch bevorstehe. Eine allen- falls missverständlicheWiedergabe der Medienmitteilungen in der Presse 46 Zur Herleitung der Unschuldsvermutung siehe ausführlich BVGer vom 19. Dezember 2013, B-506/2010, E. 6.1.2. 47 Vgl. BVGer vom 1. Juni 2010, B-420/2008, E. 11; vgl. auch das entsprechende Vorbrin- gen in RPW2012, 270 ff. Rz. 58, «Verfügung vom 16. Dezember 2011 in Sachen Wettbe- werbsabreden im Strassen- und Tiefbau im Kanton Aargau». 48 Zur institutionellen Unabhängigkeit beider Wettbewerbsbehörden vgl. S. Bangerter, in: M. Amstutz/MReinert (Hg.), Kartellgesetz, Basel 2010, KG 23 N 8 ff.

einen vom Parlament erlassenen Rechtsakt 41 .

könne denWettbewerbsbehörden daher nicht vorgeworfen werden 49 . Ob diese Auffassung haltbar ist, erscheint überaus fraglich. Das Bundes- verwaltungsgericht hat in einem ande- ren Zusammenhang mehrfach aner- kannt, dass die WEKO und ihr Sekre­ tariat aus einer Aussensicht eine Einheit bilden 50 . Diese wird durch die erheb­ lichen funktionellen und institutionel- len Verflechtungen zwischen beiden Wettbewerbsbehörden 51 akzentuiert. Auch scheidet eine Verletzung der Unschuldsvermutung nicht etwa des- halb aus, weil nach nunmehr gefestigter höchstgerichtlicher Rechtsprechung die Anforderungen von Art. 6 EMRK imVer- waltungsgerichtsverfahren erfüllt wer- den können 52 . Dies führt nämlich nicht dazu, dass die Unschuldsvermutung im Verwaltungskartellverfahren überhaupt nicht zu beachten wäre. Nach dem Bundesgerichtsentscheid in Sachen «Nikon» wird ein «Schuldausspruch» nämlich erst durch den Sanktions­ entscheid gerechtfertigt. Vor dem mit 49 Vgl. BVGer vom 1. Juni 2010, B-420/2008, E. 11; RPW 2012, 270 ff. Rz. 59, «Verfügung vom 16. Dezember 2011 in Sachen Wett­ bewerbsabreden im Strassen- und Tiefbau im Kanton Aargau»; RPW 2011, 306 ff. Rz. 80, «Ausstand von Sekretariatsmitarbei- tern». 50 BVGer vom 30. November 2016, B-6850/2014, E. 1.2; BVGer vom 2. Septem- ber 2013, B-4363/2013, E. 1.2; V. Martenet, in: V. Martenet/C. Bovet /P. Tercier (Hg.), Droit de la Concurrence, 2. Aufl., Basel 2013, KG 23 N 21. Die Schwierigkeit, Publikationen der Wettbewerbsbehörden der WEKO oder ihrem Sekretariat zuzuordnen, stellt sich nota bene keinesfalls nur für Laien, sondern auch für die spezialisierten Rechtsanwender. Illustrativ bspw. BVGer vom 15. Oktober 2014, B-3588/2012, E. 2.2. 51 Zu den zahlreichen Durchbrechungen des Grundsatzes der Trennung von Untersu- chungs- und Entscheidbehörde vgl. Banger- ter (Fn. 48), KG 23, N 10 ff.; S. Jost, Die Parteien im verwaltungsrechtlichen Kartell- verfahren in der Schweiz, Basel 2013, N 115. 52 Vgl. BGE 139 I 72 E. 4.4 unter Berufung auf das Urteil des EGMR Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien vom 27. September 2011, Nr. 43509/08, §§ 57 ff.

V. Vereinbarkeit der

Informationstätigkeit mit Verfahrensgarantien

Wie erwähnt, ist die Informationspolitik der Wettbewerbsbehörden auf starke Kritik davon betroffener Unternehmen gestossen 42 . Diese sahen hierin einen Verstoss gegen die Unschuldsver­ mutung 43 , eine Verletzung ihres Anspruchs auf ein faires Verfahren 44 sowie die Nichtgewährung des recht­ lichen Gehörs 45 . Die nachfolgenden Verfahrens­ garantien gelangen erst zur Anwen- dung, soweit überhaupt eine Rechts- grundlage für eine Informationstätig- keit der Wettbewerbsbehörden besteht. Nach den vorstehenden Erwägungen ergibt sich eine solche nur aus Art. 49 Abs. 1 KG. Der danach zulässige Umfang der Orientierung der Öffentlichkeit über Verfügungsanträge wird mithin durch die Verfahrensgarantien konkre- tisiert. 41 Vgl. G. Biaggini, Kommentar BV, Bundesver- fassung der Schweizerischen Eidgenossen- schaft, Zürich 2007, BV 5 N 9 und, den Be- griff weiter fassend, Art. 3 lit. j Ziff. 2 DSG. Im Übrigen scheidet Art. 20 KG selbst man- gels hinreichender Bestimmtheit in Bezug auf die Informationstätigkeit der Wettbewerbs- behörden als rechtliche Grundlage aus; zu den diesbezüglichen Anforderungen vgl. Ballenegger (Fn. 18), DSG 17 N 22. 42 Vgl. L. David/R. Jacobs, Schweizerisches Wettbewerbsrecht, 5. Aufl., Bern 2012, N 852. 43 Vgl. RPW2012, 270 ff. Rz. 58 ff., «Verfügung vom 16. Dezember 2011 in Sachen Wett­ bewerbsabreden im Strassen- und Tiefbau im Kanton Aargau»; RPW 2011, 529 ff. Rz. 295 ff., «Ascopa»; RPW 2008, 85 ff. Rz. 62 ff., «Strassenbeläge Tessin» (bestätigt durch BVGer vom 1. Juni 2010, B-420/2008, E. 11). 44 Vgl. RPW 2011, 306 ff. Rz. 16, 26, 76 ff., «Ausstand von Sekretariatsmitarbeitern». 45 Vgl. RPW2008, 85 ff. Rz. 62 ff., «Strassenbe- läge Tessin» (bestätigt durch BVGer vom 1. Juni 2010, B-420/2008, E. 11.

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