sic! 06/2017

Frank Bremer  |  Désirée Stebler

3. Eingeschränktes rechtliches Gehör von Dritten ohne Parteistellung? Nach dem Wortlaut von Art. 30 Abs. 2 i.V.m. Art. 43 KG fallen unter den Be- griff der am Verfahren Beteiligten grundsätzlich auch Dritte ohne Partei- stellung. Gegen eine Möglichkeit zur Stellungnahme können aber teleolo­ gische und systematische Überlegungen sprechen. Nach der hier vertretenen Ansicht hat daher in jedem Einzelfall eine Interessenabwägung des Sekre­ tariats zu erfolgen. a) Möglichkeit der Stellungnahme Dritter ohne Parteistellung   dient primär der Informations­ beschaffung der Wettbewerbs­ behörden Art. 30 Abs. 2 KG erweitert den gemäss Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 29 ff. VwVG bestehenden Anspruch auf rechtliches Gehör in zweifacher Weise. Zum einen beinhaltet der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV bzw. dessen Konkretisierung in Art. 29 VwVG grundsätzlich nicht auch das Recht, sich zum Entscheidentwurf der instruieren- den Behörde gesondert äussern zu können 90 . Zum anderen steht das recht- liche Gehör grundsätzlich nur den Parteien nach den Vorschriften der anwendbaren Verfahrensordnung, das heisst in casu Art. 6 VwVG i.V.m. Art. 48 Concurrence, 2. Aufl., Basel 2013, KG 30 N 13; V. Martenet, Le droit d’être entendu devant les autorités de la concurrence, in: P.V. Kunz/ D. Herren/T. Cottier/R. Matteotti (Hg.), Wirtschaftsrecht in Theorie und Praxis, Festschrift für Roland von Büren, Basel 2009, 554 f. 90 BGer vom 16. Juni 2003, 2A.492/2002, E. 3.4; Botschaft zu einemBundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschrän- kungen (Kartellgesetz, KG) vom 23. Novem- ber 1994, BBl, 1995 468 ff., 605; Bilger (Fn. 31), KG 39 N 68; Ducrey/Carron (Fn. 89), KG 30 N 13; Zirlick/Tagmann (Fn. 5), KG 30 N 15.

Verfahrensbeteiligten, das heisst sowohl den Hauptparteien, den Dritten mit Parteistellung als auch den Dritten ohne Parteistellung zur Stellungnahme zu übermitteln ist. 2. Praxis des Sekretariats und Lehre betreffend Dritte ohne Parteistellung uneinheitlich Unstreitig ist, dass die Hauptparteien Gelegenheit zur Stellungnahme er­ halten müssen. Soweit ersichtlich wird der Verfügungsantrag auch Dritten mit Parteistellung zugestellt 84 . Uneinheit- lich ist dagegen das Bild hinsichtlich Dritter ohne Parteistellung. In der Pra- xis des Sekretariats wird der Ver­ fügungsantrag teilweise zugestellt 85 , teilweise aber auch ohne Begründung darauf verzichtet 86 . Die Lehre ist in die- 84 Vgl. u.a. RPW2001, 95 ff. Rz. 11 ff., «Intensiv SA, Grancia»; RPW 2005, 54 ff. Rz. 49 f., 58, «SwisscomDirectories AG betreffend Herstel- lung, Verwaltung und Herausgabe von regu- lierten Verzeichnisdaten gemäss Artikel 29 der Verordnung über Fernmeldedienste vom 31. Oktober 2001 (FDV; SR 784.101.1)»; RPW2006, 65 ff. Rz. 11, 66, «Kreditkarten – Interchange Fee», wobei trotz Gewährung der Parteistellung, der Dritte mit Parteistel- lung als von den Hauptparteien separater Empfänger des Verfügungsantrags genannt wird; RPW 2006, 141 ff. Rz. 24, 26 f., 38, «Flughafen Zürich AG (Unique) – Valet Parking»; RPW 2006, 625 ff. Rz. 28 f., 33, «Flughafen Zürich AG (Unique) – Valet Parking»; RPW 2007, 241 ff. Rz. 15, 21, «Terminierung Mobilfunk»; RPW 2008, 385 ff., Rz. 24 ff., 39, «Publikation von Arz- neimittelinformationen»; RPW 2012, 74 ff. Rz. 9, 16, «Vertrieb von Tickets im Hallen- stadion Zürich». 85 Vgl. u.a. RPW 2016, 67 ff. Rz. 4, 76, 85, 87, «Online-Buchungsplattformen für Hotels»; RPW 2016, 920 ff. Rz. 20, 28, 39 ff., «Sport im Pay-TV»: Dabei hielt das Sekretariat an der Zustellung des Verfügungsantrags fest, obwohl von den Hauptparteien der Antrag gestellt wurde, darauf zu verzichten. 86 Vgl. u.a. RPW 2002, 97 ff. Rz. 7, 14, «Mobil- funkmarkt»: Zustellung an das BAKOM, das nicht amVerfahren beteiligt war; RPW2005, 54 ff., Rz. 49 f., 58, «Swisscom Directories AG betreffend Herstellung, Verwaltung und Herausgabe von regulierten Verzeichnisda- ten gemäss Artikel 29 der Verordnung über

ser Frage zwischen der deutschsprachi- gen und der französischsprachigen geteilt. Gemäss deutschsprachiger Lehre können nebst den Parteien auch Dritte ohne Parteistellung zum Verfü- gungsantrag des Sekretariats Stellung nehmen 87 . Allerdings wird gleichzeitig betont, dass die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens grundsätzlich im Er­ messen des Sekretariats stehe 88 . In der französischsprachigen Lehre wird hin- gegen unter Bezugnahme auf die Praxis des Sekretariats die Ansicht vertreten, dass nur den Parteien das Recht zukomme, sich zum Verfügungsantrag des Sekretariats zu äussern 89 . Fernmeldedienste vom 31. Oktober 2001 (FDV; SR 784.101.1)»; RPW 2012, 270 ff. Rz. 25, 37, «Verfügung vom 16. Dezember 2011 in Sachen Wettbewerbsabreden im Strassen- und Tiefbau im Kanton Aargau«; RPW 2012, 820 ff. Rz. 39, 41, «Vertrieb von Musik»; RPW 2014, 215 ff. Rz. 20, 22, 59, «Swatch Group Lieferstopp»; RPW 2016, 442 ff. Rz. 24, 62, «Nikon AG», wobei Digitec nur diejenigen Passagen des Antrags mitge- teilt wurden, die Digitec betrafen. Begründet wurde dies mit der Einstellung der Untersu- chung gegen Digitec. 87 Bilger (Fn. 34), 207 f., 230 f.; P. Borens, Die Rechtsstellung Dritter im Kartellverwal- tungsverfahren der Europäischen Gemein- schaft und der Schweiz, Basel 2000, 220, 232 f.; J. Borer, Wettbewerbsrecht I, Kommentar, Schweizerisches Kartellgesetz (KG), 3. Aufl., Zürich 2011, KG 30 N 6; Krauskopf/Schaller/Bangerter (Fn. 10), N 12.60; P. Richli, Kartellverwaltungs­ verfahren, in: R. von Büren/L. David (Hg.), Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. V/2, Kartellrecht, Basel 2000, 436; B. Schmidhauser, in: E. Homburger/B. Schmidhauser / ​F. Hof- fet /​P. Ducrey (Hg.): Kommentar zum schweizerischen Kartellgesetz, Zürich 1997, KG 30 N 14; Zirlick/Tagmann (Fn. 5), KG 30 N 14; P. Zurkinden/H. R. Trüeb, Das neue Kartellgesetz, Handkommentar, Zürich 2004, KG 30 N 2; a.M. S. Renfer, Ver­ waltungsverfahrensrechtliche Fragestellun- gen aus der Praxis des Kartellrechts – Betrachtungen eines ehemaligen Mitar­ beiters des Sekretariats der WEKO, sic! 2010, 700. 88 Borens (Fn. 87), 220; Schmidhauser (Fn. 87), KG 30 N 15. 89 P. Ducrey/B. Carron, in: V. Martenet / C. Bovet /P. Tercier (Hg.), Droit de la

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