sic! 06/2017

Der Verfügungsantrag im Kartellverwaltungsverfahren

b) Gesetz sieht gemäss Art. 43

VwVG zu 91 . Als Ausnahmebestimmung ist Art. 30 Abs. 2 KG daher grundsätz- lich eng auszulegen 92 . Die Möglichkeit der Stellung- nahme für Hauptparteien und Dritte mit Parteistellung dient vor allem ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch ist formaler Natur 93 und be- steht somit auch, wenn die Parteien gerade nichts zur Sachverhaltsfeststel- lung beitragen können. Für Hauptpar- teien kommen aufgrund des strafrecht- sähnlichen bzw. strafrechtlichen Cha- rakters von Art. 49a KG 94 noch die Ansprüche aus Art. 6 und 7 EMRK sowie Art. 30 und 32 BV hinzu 95 . Dritte ohne Parteistellung im Sinne von Art. 43 KG weisen eine deutlich geringere Bezie- hungsnähe zum Untersuchungsgegen- stand als Parteien auf. Ihr Einbezug erfolgt demzufolge nicht zur Vermei- dung eines deutlich spürbaren wirt- schaftlichen Nachteils 96 , sondern haupt- sächlich aus Gründen der umfassenden Informationsbeschaffung, insbesondere bei umstrittenen Sachverhaltsfragen 97 . 91 Vgl. B. Waldmann, in: B. Waldmann/E. V. Belser /A. Epiney (Hg.), Bundesverfassung, Basel 2015, BV 29 N 11, 41; vgl. Wald- mann/Bickel (Fn. 72), VwVG 29 N 31. 92 Zu weit gehend wäre indes die Ansicht, dass Dritten ohne Parteistellung dieser Anspruch aufgrund fehlender Parteistellung gerade nicht zukommt; vgl. Renfer (Fn. 87), 700. 93 Vgl. J. P. Müller/M. Schefer, Grundrechte in der Schweiz, Im Rahmen der Bundesver- fassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 9. Aufl., Bern 2008, 853; P. Tschannen/​ U. Zimmerli /M. Müller, Allgemeines Ver- waltungsrecht, 4. Aufl., Bern 2014, § 30 N 41. 97 Vgl. BVGer vom 19. Dezember 2013, B-463/2010, E. 4.3.3, wonach die Beteili- gung von Dritten ohne Parteistellung auch wesentlich zur Klärung des rechtserhebli- chen Sachverhalts beitrage und damit die Qualität der Entscheide erhöhe; ähnlich Krauskopf/Schaller/Bangerter (Fn. 10), N 12.60. 94 Vgl. BGE 139 I 72 E. 2. 95 Vgl. BGE 139 I 72 E. 2. 96 Vgl. BGE 139 II 328 E. 4.5.

tretenen Ansicht kann eine effiziente Verfahrensgestaltung es rechtfertigen, Dritten ohne Parteistellung die Stel- lungnahme zum Verfügungsantrag zu verweigern. Hierfür spricht, dass ge- mäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 27 ff. VwVG auch der Anspruch von Parteien auf Akteneinsicht als Teilaspekt des rechtlichen Gehörs eingeschränkt wer- den kann 102 . Dies muss umso mehr für Dritte ohne Parteistellung gelten. Wird daher beispielsweise den Interessen der Drittbeteiligten durch den Verfügungs- antrag entsprochen, kann in analoger Anwendung von Art. 30 Abs. 2 lit. c VwVG von einer Stellungnahme abge- sehen werden. Halten dieWettbewerbs- behörden eine Anhörung Dritter ohne Parteistellung zum Verfügungsantrag dennoch für erforderlich, können sie die Anhörung auf solche Passagen des Ver- fügungsantrags beschränken, welche diese unmittelbar betreffen 103 . c) Massgebliche Kriterien für Interessenabwägung im Einzelfall Vor diesemHintergrund ist in Überein- stimmung mit Art. 27 VwVG stets eine Abwägung zwischen den öffentlichen und den privaten Interessen im konkre- ten Einzelfall und unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips 104 vorzu- nehmen 105 . Betreffend die Informationsbe- schaffung ist unter anderem zu prüfen, inwiefern Dritte ohne Parteistellung tatsächlich weitere Erkenntnisse liefern können, diese Erkenntnisse für das Er- vom 23. November 1994, BBl 1995, 468 ff., 616. 102 Vgl. U. Häfelin/W. Haller/H. Keller/ D. Thurnherr: Schweizerisches Bundes- staatsrecht, 9. Aufl., Zürich 2016, N 838; Müller/Schefer (Fn. 93), 880 ff. 103 Vgl. RPW 2016, 442 ff. Rz. 62, «Nikon AG». 104 B. Waldmann/M. Oeschger, in: B. Wald- mann/ P. Weissenberger (Hg.): Praxiskom- mentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., Zürich 2016, VwVG 27 N 4. 105 Müller/Schefer (Fn. 93), 880.

Abs. 2 KG Beschränkung der Stellungnahme Dritter ohne Parteistellung ausdrücklich vor

In systematisch-teleologischer Hinsicht ist zu beachten, dass das Sekretariat gemäss Art. 43 Abs. 2 S. 2 KG die Be­ teiligung Dritter ohne Parteistellung auf eine Anhörung beschränken kann. Es stellt sich insoweit die Frage, ob Dritte ohne Parteistellung gerade zum Ver­ fügungsantrag angehört werden müs- sen oder die Anhörung auf allgemeine Sachverhaltsfragen insbesondere in einem früheren Verfahrensabschnitt beschränkt werden kann. Zum Verhältnis von Art. 30 Abs. 2 KG und Art. 43 Abs. 2 S. 2 KG finden sich nur wenige Meinungen. So hält Bilger etwa fest, dass die einmalige Anhörung der Dritten ohne Parteistel- lung im Rahmen der Stellungnahme zum Verfügungsentwurf eingeräumt werden sollte 98 . Weiter führen Kraus- kopf /Schaller/Bangerter aus, dass die Beteiligung Dritter vor allem der möglichst frühen und umfassenden Sachverhaltsermittlung diene und es deshalb sinnvoll sei, schriftliche Stel- lungnahmen dieser Dritten bereits vor demVerfügungsantrag des Sekretariats zuzulassen 99 . Martenet kommt zum Schluss, dass die Interpretation des Se- kretariats zur Folge habe, dass Art. 43 Abs. 2 S. 2 KG derogiert werde 100 . Entscheidend ist vorliegend, dass die in Art. 43 Abs. 2 S. 2 KG vorgesehene Beschränkung der Beteiligung Dritter ohne Parteistellung auf eine Anhörung der Gewährleistung eines effizienten Verfahrens dient 101 . Nach der hier ver-  98 Vgl. S. Bilger, in: M. Amstutz/M. Reinert (Hg.), Kartellgesetz, Basel 2010, KG 43 N 31.  99 Vgl. Krauskopf /Schaller/Bangerter (Fn. 10), N 12.60. 100 Vgl. Martenet (Fn. 89), 554 f. 101 Vgl. BVGer vom 19. Dezember 2013, B-463/2010, E. 4.3.3; Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andereWett- bewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG)

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