sic! 06/2017

Alfred Früh – Wenn der Lizenzgeber bezahlt: «Reverse Payment»-Vereinbarungen im Visier des Kartellrechts

III. Eigenheiten des Pharmasektors

Wettbewerbsbehörde und die Gerichte hierzulande offenbar noch nicht er- reicht 6 . Noch bevor in der EU die erwähn- ten Entscheide ergangen sind, erschien das Werk «Reverse Payments» als Mittel zur Beilegung von Patentstreitigkeiten – ein Verstoss gegen das Kartellrecht? von Filipe Fischmann. Die Dissertation ist beeindruckend. Aber nicht nur, weil sie aufgrund des Umfangs von knapp 600 Seiten ziemlich schwer in der Hand liegt. Beeindruckend ist vor allem, dass der Autor die Bedeutung des Themas rechtzeitig erkannt und äusserst gründ- lich durchdrungen hat. Das hat ihm zu Recht den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung eingebracht. Die Arbeit untersucht zunächst die Funktionsweise des Pharmasektors und geht in einiger Tiefe auf die Zulas­ sungsverfahren in den USA und Europa ein. Ebenfalls rechtsvergleichend er- folgt dann die Analyse dieser Rechts- ordnungen imHinblick auf die vertrags- rechtliche, patentrechtliche und kartell- rechtliche Prüfung von «Reverse Payment»-Vereinbarungen. Die rechts- vergleichende Herangehensweise ist eindeutig ein Gewinn. Sie zeigt bei- spielsweise auf, dass sich bereits die Unterschiede im Zulassungsverfahren darauf auswirken, mit welcher Wahr- scheinlichkeit kritische Vergleichsver- träge abgeschlossen werden. Überdies lassen sich in einer rechtsvergleichen- den Betrachtung die Voraussetzungen bestimmter Normen besser herausschä- len – imMittelpunkt steht hier natürlich die Frage, wann ein kartellrechtlich verpöntes Verhalten vorliegt.

produzenten zugutekommen sollte. Ursächlich für diese (Fehl-)Anreize seien die dem ersten Generikahersteller gewährte 180-tägige Marktexklusivität sowie die Möglichkeit des Originalprä- parateherstellers, unter Umständen eine maximal 30-monatige Sistierung der Zulassung eines Generikums zu er- wirken. Entsprechend habe die US Fe- deral Trade Commission (FTC) auf der Grundlage eigener Studien eine Geset- zesänderung verlangt, die inzwischen in Angriff genommen wurde, aber nicht alle Probleme beseitigt habe. Ein we- sentlicher Unterschied zwischen den USA und der EU sei, dass in der EU sol- che (negativen) Anreize fehlten 9 . Das Schweizer Zulassungsverfah- ren ist zwar nicht ans zentralisierte Ver- fahren der EU angeschlossen, jenem aber zweifelsohne ähnlicher als dem Verfahren der USA. Mit Blick auf das noch zu erwartende Auftreten von «Reverse Payment»-Vereinbarungen in der Schweiz drängt es sich aus akade- mischer Sicht aber trotzdem auf, möglichst bald auch das Schweizer Zu- lassungsverfahren daraufhin zu unter- suchen, ob und inwiefern es (Fehl-) Anreize zum Abschluss problematischer Vergleiche setzt. Ein Blick auf die Gerichtspraxis zeigt, dass die US-amerikanischen unteren Instanzen in ihrer Beurteilung der «Reverse Payment»-Vereinbarungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen ge- langten. Damit war es am Supreme Court, sich in der «Actavis»-Entschei- dung 10 abschliessend zu dieser Thema- tik zu äussern. In einem knappen Ent- scheid kamdie Mehrheit der Richter des Supreme Court zum Schluss, «Reverse Payment»-Vereinbarungen seien nach IV. Die Praxis in den USA und in Europa

Ausgangspunkt von Fischmanns Arbeit ist eine Charakterisierung des Pharma- sektors 7 . Dieser Teil der Arbeit ist eine wahre Fundgrube für spezifische Infor- mationen zum Funktionieren dieses Sektors. Lesenswert sind insbesondere die Ausführungen darüber, wie die Preise von Generika massgeblich von der Zahl der Generikaeintritte insge- samt abhängen und zur Unterscheidung von Generika und Biosimilars (womit Nachahmerprodukte von Original-Bio- logika bezeichnet werden). Letztere zeigen deutlich auf, dass Biosimilars und Generika nicht über denselben Leisten geschlagen werden können. Welche zentrale Rolle Vergleichs- vereinbarungen in patentrechtlichen Streitigkeiten einnehmen, ist spätestens seit dem Abschluss der Sektoruntersu- chung des Pharmasektors durch die Europäische Kommission bekannt. Im 2009 veröffentlichten Schlussbericht wird dargelegt, dass bei 23 von gut 200 untersuchten Verträgen «Reverse Pay- ments» festgestellt wurden. Dabei flos- sen insgesamt über 200 Mio. EUR 8 . In Fischmanns Ausführungen sticht in materieller Hinsicht heraus, dass der für das US-amerikanische Zu- lassungsverfahren prägende Hatch- Waxman Act – zumindest teilweise – für das Entstehen kartellrechtlicher Schä- digungspotenziale verantwortlich gemacht wird. Nach überzeugender Analyse des Autors schafft das US-ame- rikanische Recht geradezu systematisch Anreize zum Abschluss von «Reverse Payment»-Vereinbarungen. Dies ge- schieht paradoxerweise, obwohl der Hatch-Waxman Act auch den Generika-  7 F. Fischmann, «Reverse Payments» als Mittel zur Beilegung von Patentstreitigkeiten – ein Verstoss gegen das Kartellrecht?, Bern 2016, 5 ff.  8 Europäische Kommission, Pharmaceutical Sector Inquiry – Final Report, 2009, 255 und 279 f.; siehe auch Fischmann (Fn. 7), 366 ff.

 6 Siehe bereits D. Guex, Les paiements inversés entre fabricants de médicaments originaux et génériques: récents développements aux États-Unis et dans l’Union européenne et si- tuation en Suisse, à la croisée du droit de la concurrence et du droit des brevets, sic! 2015, 382.

 9 Fischmann (Fn. 7), 448 f. 10 Siehe vorn Fn. 1.

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