sic! 06/2017

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Stellungnahme G 1/15 der Grossen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts – Teilpriorität «entgiftet» Teil- und Stammanmeldungen S tefan G. F uchs *

ment offenbart wurde und als Alternative von einem generischen ‹Oder›-Anspruch dieser euro­ päischen Patentanmeldung oder des daraufhin erlassenen Patents umfasst wird, entgegengehal­ ten werden?» (Übersetzung des Verfassers) Hintergrund des Streits ist die Frage, ob einer Teilanmeldung, die aus einer Stammanmeldung für ein europäi­ sches Patent, die die Priorität einer früheren ausländischen Patentanmel- dung in Anspruch nimmt, abgetrennt wurde, ebenfalls die Priorität der frühe- ren Anmeldung zugutekommt. Dies ist fraglich, da der Patentanspruch der Teilanmeldung gegenüber dem An- spruch der Prioritätsanmeldung verall- gemeinert 1 wurde und sich folglich die Frage stellt, ob es sich noch um «die- selbe Erfindung» i.S.d. Art. 87(1) EPÜ handelt und ob ggf. eine Teilpriorität zuerkannt werden sollte (Vorlagefragen 1–4). Zudem ist unklar, ob bei verwei- gerter Teilpriorität die mit der Priori- tätsanmeldung identische Stamman- meldung der Teilanmeldung neuheits- schädlich entgegengehalten werden kann (Selbstkollision in Form einer «giftigen Stammanmeldung») 2 (Vorla­ gefrage 5).  1 Verallgemeinerungen der Nachanmeldung gegenüber dem Prioritätsdokument treten vor allem bei Chemie- und Pharmapatenten dergestalt auf, dass Markush-Formeln gene- ralisiert (siehe z.B. T 1127/00) oder nume- rische Bereichsangaben erweitert (siehe z.B. T 1877/08) werden.  2 Eine im Wesentlichen identische Konstella- tion einer «giftigen Teilanmeldung» nahmdie TBK 3.2.05 in T 1496/11 an; siehe umfas- send zur Thematik: S. Fuchs, Giftige Teilan- meldungen und Teilprioritäten, Köln 2016, sowie T. Bremi, Toxische Prioritäten und Teilanmeldungen – endlich eine klärende

Die Grosse Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts optiert in ihrer Stellungnahme G 1/15 für eine grosszügige Zuerkennung von Teil- prioritäten für generische «Oder»- Ansprüche und folgt damit dem «kon- zeptuellen Ansatz» der Entscheidung T 1222/11. Das Problem «giftiger Teilanmeldungen» ist damit ent- schärft. Zugleich hält die Kammer am «Goldstandard» aus G 2/98, G 1/03 und G 2/10 für die einheitliche Be- stimmung des Offenbarungsgehalts im Rahmen der Prioritätsprüfung sowie für die Prüfung einer unzuläs- sigen Erweiterung fest und macht Vorgaben für die Vorgehensweise bei der Prioritätsprüfung im Zusammen- hang mit Teilprioritäten. Dans sa décision G 1/15, la Grande chambre de recours de l’Office euro- péen des brevets adopte une position généreuse en reconnaissant une prio- rité partielle pour les revendications alternatives («‹OR›-claims») et suit ainsi l’approche conceptuelle de la décision T 1222/11. Le problème des «demandes divisionnaires toxiques» est par conséquent désamorcé. De plus, la Chambre adhère au «gold standard» des décisions G 2/98, G 1/03 et G 2/10 pour la détermina- tion uniforme du contenu des divul- gations lors de l’examen de la priorité ainsi que pour l’examen d’un élargis- sement inadmissible. La Chambre précise également le processus d’exa- men de la priorité dans le cadre des priorités partielles.

I. Divergierende Rechtsprechungslinien seit G 2/98 führen zur Vorlage­ entscheidung T 557/13 Stellungnahme G 1/15 1. Rz. 6.7 aus G 2/98 ist nicht als Einschränkung des Prioritätsrechts für generische «Oder»-Ansprüche zu verstehen. 2. Vorgaben für die Prioritätsprüfung sprechungslinien seit G 2/98 führen zur Vorlage­ entscheidung T 557/13 Am 17. Juli 2015 hat die Technische Beschwerdekammer (TBK) 3.3.06 des Europäischen Patentamts (EPA) in T 557/13 entschieden, folgende Fragen der Grossen Beschwerdekammer (GBK) zur Stellungnahme vorzulegen: «1. Wenn ein Patentanspruch einer euro­ päischen Patentanmeldung oder eines europäi­ schen Patents alternative Gegenstände durch einen oder mehrere generische Begriffe oder in anderer Art umfasst (generischer ‹Oder›- Anspruch), kann dann die Zuerkennung einer Teilpriorität nach dem EPÜ für diesen Anspruch versagt werden in Anbetracht alternativer Gegen­ stände, die (in ausführbarer Weise) erstmals un­ mittelbar, oder zumindest implizit, und eindeutig im Prioritätsdokument offenbart sind? 2. Falls dies unter bestimmten Voraus­ setzungen bejaht werden sollte, muss dann die Massgabe aus Rz. 6.7 von G 2/98 ‹sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alter­ nativer Gegenstände beansprucht wird› als recht­ liches Kriterium für die Beurteilung eines An­ spruchs auf eine Teilpriorität eines generischen ‹Oder›-Anspruchs angewendet werden? […] 5. Falls eine bejahende Antwort auf Frage 1 gegeben werden sollte, kann dann ein Gegen­ stand, der in einer Stamm- oder Teilanmeldung für ein europäisches Patent offenbart wurde, als Stand der Technik gemäss Artikel 54(3) EPÜ einem Gegenstand, der in einem Prioritätsdoku­ II. I. Divergierende Recht­

* Dr. iur., Freiburg i.Br. und London.

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