sic! 06/2017
Stefan G. Fuchs – Stellungnahme G 1/15 der Grossen Beschwerdekammer
den – der sog. Offenbarungstest ent- scheidend sein. Dieser besagt, dass eine Priorität nur dann in Anspruch genom- men werden kann, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs der Nachanmeldung unmittelbar und ein- deutig unter Heranziehung seines allgemeinen Fachwissens der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann. Dabei greift die GBK auf diesen Test nicht nur imRahmen der Prioritäts- prüfung, sondern auch bei der Prüfung einer unzulässigen Erweiterung zurück. So bekräftigte sie im Anschluss an G 2/98 in den Stellungnahmen G 1/03 und G 2/10, dass dieser «Goldstandard» auch für die Prüfung nach Art. 123(2) EPÜ gelte. Zur Aussage in Rz. 6.7 von G 2/98 führt die GBK in diesem Zusammen- hang an, diese sei angesichts mehrerer Prioritäten, die für ein und denselben Anspruch beansprucht würden, getrof- fen worden. In der vorliegenden Kons- tellation einer Teilpriorität sei dagegen lediglich ein Teil des von einem generi- schen «Oder»-Anspruch umfassten Ge- genstands zur Inanspruchnahme der Priorität einer früheren Anmeldung berechtigt. Bei der Prüfung einer Teilpriorität innerhalb eines generischen «Oder»-
Anspruchs solle daher folgendermassen vorgegangen werden: – 1. Schritt: Der Gegenstand, der in dem hinsichtlich des Standes der Technik relevanten Prioritäts dokument offenbart wird, wird bestimmt. Dies geschieht anhand des Offenbarungstests aus G 2/98. – 2. Schritt: Es wird bestimmt, ob dieser Gegenstand vom Anspruch der Nachanmeldung umfasst wird. – 3. Schritt: Der Anspruch der Nach- anmeldung wird «konzeptuell» in zwei Teile unterteilt: in einen ers- ten, der mit der im Prioritätsdoku- ment unmittelbar und eindeutig offenbarten Erfindung überein- stimmt; und in einen zweiten, der aus dem restlichen Teil des gene- rischen «Oder»-Anspruchs besteht und die Priorität nicht geniesst, jedoch selbst eine Priorität für spä- tere Anmeldungen begründet. Vorgaben für die Behandlung von Mehrfachprioritäten innerhalb eines Patentanspruchs macht die GBK hinge- gen nicht. Abschliessend betont die Kammer, dass diese Vorgehensweise bei der Be- urteilung von Teilprioritäten aus- schliesslich Schritte erfordere, die zur
gängigen Praxis sowohl des EPA als auch der mit dem europäischen Patent- system vertrauten Praktiker gehörten und daher mit keinen zusätzlichen Schwierigkeiten verbunden seien. Ohne auf die Fragen 2 – 5 einzuge- hen, antwortet die GBK daher: «Im Rahmen des EPÜ kann ein Anspruch auf eine Teilpriorität für einen Anspruch, der ei nen alternativen Gegenstand durch einen oder mehrere generische Begriffe oder in sonstiger Weise umfasst (generischer ‹Oder›-Anspruch), nicht verweigert werden, wenn dieser alternative Gegenstand zum ersten Mal unmittelbar, oder zumindest implizit, und eindeutig und in aus führbarer Weise im Prioritätsdokument offen bart wurde. Insofern kommen keine anderen ma teriellen Voraussetzungen oder Einschränkungen zur Anwendung.» (Übersetzung und Hervorhebung des Verfassers) Die GBK entschärft damit das Pro- blem «giftiger Teilanmeldungen», ohne eine Antwort auf Frage 5, die speziell auf die Selbstkollision zwischen Teil- und Stammanmeldung gerichtet war, geben zu müssen. Ihre Existenz ist schlicht unmöglich geworden, da der gedanklich aufgeteilte Anspruch der verallgemeinerten Nachanmeldung eine «entgiftende» Teilpriorität ge- niesst.
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