Blickpunkt Schule 3/2020

Zu Beginn es Schuljahres 1944/ 1945 wurde unser Schulgebäude in Aussig-Schreckenstein der Waffen- SS für die Einrichtung einer Funker- schule zur Verfügung gestellt. Unsere Schule zog nun in das Gebäude einer anderen Bürgerschule im Zentrum der Stadt. Wir hatten jetzt abwechselnd amVormittag und am Nachmittag Unterricht. Wir beendeten den Vor- mittagsunterricht wegen des Flieger- alarms fast jeden Tag kurz nach 10:00 Uhr, der Nachmittagsunterricht fiel häufig aus. Am 14. Dezember 1944 fielen in meiner Heimatstadt bei dich- tem Nebel die ersten Bomben. Wir hatten jetzt nur noch wenig Unter- richt. Weil immer klarer wurde, dass Deutschland diesen Krieg verlieren würde, konzentrierten wir uns im Un- terricht vorwiegend auf unsere Hauptfächer. Zu Ostern 1945 (1. April) wurde der Unterricht ganz eingestellt. Unser Schulgebäude wurde als Laza- rett oder zur Unterbringung von Flüchtlingen benötigt. Die schulfreie Zeit nutzten wir Dorf- kinder nun zum Spielen. Dabei bot sich uns Ende April 1945 ein schreckli- cher Anblick. An einem Nachmittag wurden innerhalb kurzer Zeit zwei Ko- lonnen von KZ-Häftlingen durch un- seren Ort getrieben. Menschen, die nur noch aus Haut und Knochen be- standen, zogen in Vierer- und Fünfer- reihen langsam durch unseren Ort in Richtung Theresienstadt. Die Bewa- cher hieben vor unseren Augen mit Peitschen in die ausgemergelten Ge- stalten hinein, um sie zu schnellerem Gehen zu zwingen. Wir Kinder waren erschüttert, aber zu keiner Reaktion fähig. Später erfuhren wir, dass einige Häftlinge in der Nähe unseres Dorfes verstarben und irgendwo verscharrt wurden. Der Anblick der misshandel- ten Häftlinge prägte sich in unser Ge- dächtnis ein. Nach dem Krieg ver- suchten wir deshalb mitzuhelfen, ein antifaschistisches, demokratisches Deutschland aufzubauen. Unmittelbar nach der bedingungs- losen Kapitulation wurde mein Hei- matort Birnai in der Nacht vom 8. zum 9. Mai von sowjetischen Truppen er- reicht. In den Tagen zuvor waren viele

deutsche Soldaten durch unser Dorf gezogen. Sie hatten alle nur ein Ziel. Sie versuchten, sich über die Elbüber- gänge nach Westen abzusetzen, wo die amerikanischen Truppen vorrück- ten. Der Versuch, so der sowjetischen Gefangenschaft zu entkommen, scheiterte jedoch in den meisten Fäl- len. Einige Wochen lang zogen dann sowjetische Militäreinheiten durch Birnai elbaufwärts, bevor zugewan- derte Tschechen, unterstützt von Hit- lergegnern, die Macht in meinem Hei- matdorf übernahmen. Weil wir gehört hatten, dass aus vielen deutschen Dörfern und Städten die deutschen Einwohner vertrieben worden waren, bereiteten auch wir – meine Mutter, mein Vater und meine Schwester – uns auf unsere Vertreibung vor. Am 13. August 1945 kam der Aus- weisungsbefehl durch den ’National- ausschuss in Birnai’. Wir hatten das Gebiet der Tschechoslowakischen Re- publik zu verlassen. Man gab uns eine halbe Stunde Zeit zum Packen. Nur die nötigen Gegenstände für den Ta- gesgebrauch, Nahrungsmittel für fünf Tage und Geld durften mitgenommen werden. Alles andere war bei Andro- hung einer Strafe nach Militärrecht abzugeben oder ordnungsgemäß zu hinterlassen. In einem langen Zug zo- gen die Ausgewiesenen zu Fuß hinauf auf das Erzgebirge, bewacht von schwerbewaffneten tschechischen Soldaten. Am nächsten Tag trieben uns unsere tschechischen Begleiter über die sächsische Grenze in die Kleinstadt Geising. Nach vielem Hin und Her, nach Beraubungen und Er- niedrigungen, erreichten wir das zer- störte Dresden, eine Woche später, jetzt in einem offenen Kohlewagen, den Bahnhof Sondershausen und schließlich per Pferdefuhrwerk Schernberg, ein größeres Bauerndorf in Nordthüringen. Wir dankten Gott, der uns eine neue – wie sich erst spä- ter herausstellte, nur zeitweilige – Heimstatt geschenkt hatte. In Schernberg besuchte ich bis 1947 die 7. und. 8. Klasse der Volksschule, bevor ich 1949 an die Oberschule nach Sondershausen wechselte, wo ich 1951 das Abitur ablegte. Norbert Sommer

24 BLICKPUNKT Schule Zeitzeugen | Teil I

Foto: privat

>> Familie Sommer, Herbst 1941 in Birnai unten v.l.: Bruder Josef (Jahrgang 1928) , Mutter Anna, Schwester Annelies (Jahrgang 1941) , Vater Josef oben v.l.: Norbert (Jahrgang 1932 ), Großvater Anton Sommer (gestorben 1943)

Nach der 4. Klasse entschied ich mich für einen Wechsel auf die ’Bür- gerschule’ (Realschule) in unserer Kreisstadt Aussig. Mein 5. Schuljahr (1943 bis 1944) war noch einigerma- ßen normal. Unsere Väter waren zwar zur Wehrmacht eingezogen worden, doch die Kriegshandlungen und auch die Luftangriffe auf deutsche Städte ereigneten sich weit weg. Da unsere Lehrerinnen und Lehrer sehr tüchtig waren, lernten wir weiterhin sehr viel. Am Ende dieses Schuljahres häuften sich zwar die Fliegeralarme, doch die alliierten Flugzeugpulks flogen nur über unsere Heimat hinweg. Sie trans- portierten in der Regel ihre todbrin- gende Last nach Berlin. Uns Schülern aber brachten sie fast jeden Tag schulfrei, und zwar spätestens kurz nach 10:00 Uhr. Eine politische Indoktrinierung fand aber imDeutschen Jungvolk (DJ) statt, dessen Mitglied ich mit zehn Jahren wurde. Wir trieben Sport, lernten und sangen auch nationalsozialistische Lieder und hörten uns Nazi-Vorträge an. Da ich meine kleine Schwester be- treuen musste und einen Herzfehler hatte, konnte ich aber an vielen dieser Veranstaltungen nicht teilnehmen.

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