Blickpunkt Schule 3/2020

Kriegsende vor 75 Jahren Als Schüler im Sudetenland im Zweiten Weltkrieg Zeitzeuge Norbert Sommer erinnert sich

BLICKPUNKT Schule Zeitzeugen | Teil I

Vorwort Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der bedin- gungslosen Kapitulation der deut- schen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Unser Verbandskollege Norbert Sommer, Jahrgang 1932, ist Ober- studienrat i.R.. Er war zuletzt mit den Fächern Englisch, Russisch und Sozialkunde an einem Offenbacher Gymnasium (Rudolf-Koch-Schule) eingesetzt. Seine Zeit als Schüler und das Kriegsende im damaligen Reichsgau Sudetenland hat er noch in lebhafter Erinnerung. Das Sudetenland wurde durch das Münchener Abkommen 1938 Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Nach Kriegsende wurden in der Tschechoslowakei etwa drei Mil- lionen Deutsche enteignet, bevor sie aus ihren seit Jahrhunderten ange- stammten Gebieten nach Deutsch- land und Österreich ausgewiesen bzw. vertrieben wurden. Die Vertreibung führte Norbert Sommer und seine Familie nach Thüringen in die SBZ. Dort legte er seine Abiturprüfung ab und begann zu studieren. Wegen Als Schüler im Sudeten- land während des Zweiten Weltkriegs bis zur Vertreibung Mein erster Schultag war eine Kata- strophe für Millionen von Menschen in der Welt. Das lag aber nicht an mir, sondern an Adolf Hitler, der in den frühen Morgenstunden jenes 1. September 1939 der deutschen Wehrmacht den Befehl erteilte, in Polen einzumarschieren und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste. Weil wir damals noch kein Radio be- saßen, erfuhren meine Mutter und ich diese schreckliche Nachricht erst

’Kriegs- und Boykotthetze’ wurde er, nach einigen Monaten schikanöser Stasi-Haft, vom Bezirksgericht Er- furt im Januar 1953 in der DDR zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Der folgende erste Teil seines Be- richts handelt von Sommers Zeit als Schüler im Sudetenland sowie dem Ende des Krieges mit der folgenden Ausweisung nach Deutschland. In einer weiteren Ausgabe von ’Blickpunkt Schule’ wird sich ein zweiter Teil der Erinnerungen mit seiner Zeit in Thüringen bis zu seiner Verurteilung befassen. Sehr herzlich danken wir Norbert Sommer dafür, dass er seine Erinne- rungen als Zeitzeuge unserer Ver- bandszeitschrift zur Veröffentli- chung zur Verfügung gestellt hat. Genauere biografische Hinweise und weitere Berichte finden sich auf dem Zeitzeugenportal der ’Bundes- stiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur’ im Internet. Die Stiftung wurde 2009 mit Unterstützung des Bundesministeriums des Innern und der deutschen Bundesländer einge- richtet. Paul Kötter Seniorenbeauftragter des hphv Die ersten vier Schuljahre verliefen für mich unspektakulär. Ich besuchte die zweiklassige Volksschule des ka- tholisch geprägten kleinen sudeten- deutschen Dorfes Birnai in der Nähe von Aussig an der Elbe, knapp fünfzig Kilometer südöstlich von Dresden ge- legen. Unser recht gütiger und erfah- rener Oberlehrer unterrichtete die Klassen 1 bis 3, eine jüngere tüchtige Lehrerin betreute die Klassen 4 bis 8. In den ersten vier Jahren erhielten wir ausgezeichneten Unterricht. Der Einfluss des Nationalsozialismus war kaum spürbar. Wir lernten und sangen natürlich das Deutschlandlied und auf dem Wege zur Schule von der Nachbarin.

Foto: privat

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das Horst-Wessel-Lied. Wir mussten ebenfalls in der Lage sein, Hitlers Le- benslauf zu erzählen, und beschäfti- gen uns auch mit demVerlauf des Krieges. Während des Krieges war ich ein patriotischer Deutscher. Ich freute mich über die deutschen Siege und war traurig über die Niederlagen. Da aber unsere beiden Lehrkräfte christ- lich geprägt waren, gab es bei uns kei- ne nationalsozialistische Indoktrinati- on ebenso wenig wie einen Fahnenap- pell vor Unterrichtsbeginn. Auch die Lehrbücher waren meiner Erinnerung nach nicht nationalsozialistisch über- frachtet. Wir hatten in den ersten vier Schuljahren Religionsunterricht in unseren Schule bei unserem katholi- schen Pfarrer, den wir sehr mochten und der uns sehr ernst nahm. Von Ju- gend an bin ich mein ganzes Leben hindurch überzeugter Christ. Dies trug mich durch alle Höhen und Tie- fen meines langen Lebens und be- wahrte mich vor politischer Radikali- sierung im Nationalsozialismus und im Stalinismus. >> Norbert Sommer als Ministrant, Ostern 1944 »Im Leben unseres Dorfes spielte die Kirche eine wichtige Rolle.« >>

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