Blickpunkt Schule 5 2025
die Freiheit und Unabhängigkeit des Bildungsprozesses gegenüber Instrumentalisierungsversuchen von außen. Diese Idee hätte aber nicht zwei Jahr hunderte getragen, wenn sie nicht auch den Praxistest bestanden hätte. Mit dem Gymnasium war die Gesellschaft in der Lage, im Bildungswesen die rich tigen Antworten auf die sich ständig ändernden Herausforderungen etwa durch die Industrialisierung zu finden. Natürlich hat sich der Fächerkanon ge wandelt, aber die Erkenntnis war: Am besten bereitet man junge Menschen durch eine vertiefte Allgemeinbildung auf rasante Veränderungsprozesse vor, nicht durch die Kreierung ständig neuer Fächer und hektische Anpassungen von Lerninhalten. Auch wenn es Humboldt vorrangig um Persönlichkeitsbildung ging – das Gymnasium beinhaltete auch immer ein Aufstiegsversprechen. Das Humboldtsche Bildungsideal ist darauf gerichtet, den Jugendlichen einen Horizont von Möglichkeiten zu eröffnen, in ihrem persönlichen Be reich, aber eben auch im beruflichen und gesellschaftlichen Leben. So sind mit der gymnasialen Erfolgsgeschichte untrennbar der Erfindergeist der Gründerjahre, das Wirtschaftswunder, die Öffnung höherer Bildung für breite Volksschichten und die Erschließung von Begabungsreserven sowie der Siegeszug der Mädchenbildung ver bunden. Aufstieg durch Bildung, heute ist das Gymnasium auch die große Chance für Integration und gesellschaftlichen Aufstieg für immer mehr Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Ausweitung der Gymnasialquoten sollte dabei nicht auf Kosten der Leistung gehen, was auch lange Zeit funktionierte. Der Bildungsforscher Olaf Köller hat bei der Auswertung von PISA-Er gebnissen vor einigen Jahren in Bezug auf das Gymnasium festgestellt, dass »die Institution in ihrem Einfluss die Komposition übertrifft«. Übersetzt heißt das, so Köller, dass es etwas an der Schule- und Unterrichtskultur des Gymnasiums geben muss, was andere Schulformen in dieser Art nicht haben, →
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Das Erfolgsgeheimnis gymnasialer Bildung
D as deutsche Gymnasium kann bis dato auf eine unglaubliche Erfolgsgeschichte zurück- blicken; manche sagen sogar, es sei weit über Deutschland und Europa hinaus die erfolgreichste Schulart der modernen Menschheitsgeschichte. In einem wegweisenden Aufsatz hat vor über fünfzehn Jahren in der DPhV Zeitschrift PROFIL Heinz-Elmar Ten orth das Gymnasium die ‘Leitinstitu tion’ des deutschen Bildungswesens genannt und dies auch ausführlich begründet. Das Gymnasium setze nicht nur Maßstäbe für sich, sondern auch für alle anderen Bildungsinstitutionen. Dabei ist das deutsche Gymnasium schon oft totgesagt worden– von Poli tikern, von Medien, von Bildungswis senschaftlern. Die Begründungen für diese Untergangsszenarien haben aber gewechselt. Während vor fünfzig Jah ren die Gesamtschule als Totengräber des Gymnasiums propagiert wurde – eine komplette Fehlprognose, wie sich gezeigt hat –, heißt es heute, dass sich das Gymnasium quasi selbst abschaf fe, indem es zur neuen Hauptschule geworden sei und sich zu Tode siege. Wer die Frage nach der Zukunft des Gymnasiums stellt, muss zunächst einmal klären, worin das Erfolgsge heimnis des Gymnasiums besteht und ob diese Erfolgsformel noch trägt.
von HEINZ-PETER MEIDINGER Ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Philologen verbandes und ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes
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Dabei gilt es, verschiedene Aspekte und Funktionen gymnasialer Bildung zu unterscheiden. Das Gymnasium ist – und das gilt sogar im weltweiten Maßstab – eine der wenigen Schularten, an deren An fang, zumindest in seiner neuhuma nistischen Neuausrichtung, eine ein zigartige, geniale Bildungsidee steht: das Humboldtsche Bildungsideal. Der junge Mensch erwirbt sich Bildung, indem er so viel Welt wie möglich er fasst und mit seiner Person verbindet. Damit ist eigentlich schon vieles von dem umrissen, was bis heute gym- nasiale Bildung ausmacht: das Bildungsziel des mündigen, selbstständig denkenden und lernfähigen Menschen, die Mannigfaltigkeit und produk tive Vielfalt der Lernsituationen, die sich in der beeindruckenden Fächervielfalt des Gymnasiums spiegelt und → →
SCHULE 5|2025
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