Blickpunkt Schule 5/2020

schätzung von Leistungen und der Effektivität im Umgang mit Zeit auszugehen. Der Vorgang des Lernens Was man im Zusammenhang mit den Erwartungen an ein digitales Lernen nur selten findet, ist eine genaue Be- schreibung des Lernvorganges selbst. Lernen ist die Kon- struktion von Bedeutung im Kopf des Lernenden. Und die- ser Vorgang ist entgegen in der Pädagogik weit verbreiteter Vorstellungen fast immer schwer und nicht leicht. Falsche Analogieschlüsse, bei denen biologische Ausreifungspro- zesse wie beim Laufenlernen oder beim Erwerb der Mutter- sprache mit kulturellem Lernen verwechselt werden, haben zur irrigen Auffassung von der Möglichkeit eines leichten, spielerischen Lernens beigetragen. Lernen ist ein seit Tausenden von Jahren unveränderter natürlicher biologischer Vorgang, weil sich der menschliche Hirnaufbau und die dazugehörige Hirnfunktion nach an- thropologischem Erkenntnisstand seit rund 20000 Jahren nicht mehr verändert haben. Und Lernen ist schwer, weil der Vorgang aus neurobiologischer Sicht so kompliziert ist. Das liegt vor allem daran, dass das für uns unbewusst agierende Stammhirn das Großhirn aktiviert und deakti- viert und dass dieses Großhirn vornehmlich durch Gefühle stimuliert wird. Lernen hat also sehr viel mit Gefühlen zu tun, auf die wir keinen unmittelbaren Einfluss nehmen können. Sitz der Ge- fühle ist das im Großhirn befindliche Limbische System. Es stellt das zentrale Bewertungssystem unseres Bewusstseins dar. Und weil schon der Wille zum Lernen zunächst nicht mehr als ein Gefühl ist, kann das Limbische System als das eigentliche Motivationszentrum des Menschen angesehen werden. Es prüft und bewertet alles, was durch uns und mit uns geschieht und zwar nach den Gesichtspunkten der Lustgewinnung und der Unlustvermeidung. Die dabei ge- machten Erfahrungen werden im emotionalen Gedächtnis gespeichert. Dieses überprüft zumeist unbewusst jede neue Situation auf ihre Bekanntheit und darauf, wie sie bewältigt wurde. Und auch diese Prüfung erfolgt nach dem Gesichts- punkt einer Kosten-Nutzen-Kalkulation im Sinne von loh- nend oder zu vernachlässigen. Kommt das System zu dem Schluss, dass sich eine lernende Beschäftigung mit der Sa- che lohnt, so werden über das »neuromodukatorische Sys- tem« die in der Großhirnrinde vorhandenenWissensnetz- werke so umgestaltet, dass neues Wissen entsteht. Der Vorgang des Lernens läuft also zumeist hochauto- matisiert und weitgehend unbewusst ab. Anders als im Bereich des intellektuellen Lernens voll- zieht sich das Lernen im sozialen Bereich eher blitzartig, weil das Individuum in diesem Kontext bereits über Erfah- rungen verfügt, auch wenn sie diese selber noch gar nicht gemacht hat. Der Grund ist das Vorhandensein sogenann- ter »angeborener Lehrmeister«, die das vorindividuelle ’stammesgeschichtliche’ Wissen verkörpern. So kann von ’sozialem Lernen’ im eigentlichen Sinne gar keine Rede

sein, weil es bereits vor über Millionen Jahren von unseren Vorfahren erlernt wurde und ein fester Teil unseres Wissens ist. So können die meisten Menschen schon in den ersten Sekunden einer Begegnung die Befindlichkeit und Glaub- haftigkeit ihres Gegenüber einschätzen, weil das gesamte mimisch-gestische Ausdrucksrepertoire angeboren ist und, wie Forschungen an taubblinden Kindern ergaben, sich auch ohne Lernen entwickelt. Gleiches gilt im Übrigen auch für Verhaltensmuster im Bereich der Sexualität. Auch sie werden nicht im eigent- lichen Sinne erlernt, weshalb etwa die Blick- und Körper- bewegungen während des Flirtens und Balzens beim Papuaindianer die gleichen sind wie beim Diskobesucher in New York. Der Forschungsbereich der Kindergartenethologie nimmt sprachliche und körperliche Ausdrucksformen, Muster und Funktionen von Aggressivität oder des Spiel- verhaltens in den Blick und offenbart hohe interkulturelle Übereinstimmungen, was für eine naturhafte Verankerung dieser Verhaltensweisen spricht. Bereits im frühen Kindes- alter liegt ein extensives Repertoire an Verhaltensweisen vor, das dann kaummehr erweitert wird. ’Lernen mit allen Sinnen’ Für ein kulturelles-intellektuelles Lernen existiert kein na- türliches Vorwissen. Buchstaben und Zahlen sind Symbole mit Bedeutungscharakter, die sich in der Natur nicht finden lassen. Ein jeder Mensch muss sie immer wieder mühsam erlernen, was allerdings nach Begabungsstruktur und Mo- tivationslage variiert. Unser Gedächtnis für solche Inhalte ist fragil, kann leicht durch andere Inhalte überschrieben werden und bedarf deshalb oft der Verfestigung durch Übungen und Wiederholungen. Um etwas im sogenannten Langzeitgedächtnis jederzeit abrufbar abzulegen, kann ein ’Lernen mit allen Sinnen’ un- terstützend helfen. Eine multiple Präsentation von Stoffen wäre also begrüßenswert. Genau hier setzen Befürworter eines digitalen Lernens an und behaupten, Computerpro- gramme seien eine sinnvolle Erweiterung von anderen Lernmaterialien und damit nützlich für eine verbesserte Verankerung von Wissen. Nun zeigen allerdings die For- schungen der Hirnphysiologie, dass die Zugangskapazitä- ten zum verarbeitenden Gehirn äußerst eng sind, weshalb dieses bei übertriebener Präsentation überreizt reagiert und sich überfordert zeigt. So werden etwa die großen Lerndefizite der deutschen Grundschüler in den grundle- genden Bereichen von Lesen, Schreiben und Rechnen unter anderem auf eine Überfrachtung mit Anschauungsmate- rialien zurückgeführt bei Vernachlässigung von einfachen und stupiden Übungs- und Wiederholungsvorgängen. An- schaulichkeit ist eine unerlässliche Grundlage für das Ler- nen. Sie kann aber nicht beliebig ausgeweitet und gestei- gert werden. Bei einer Überflutung mit Informationen kommt es zu Fehlern in der Informationsverarbeitung, weil dann zu stark selektiert und vereinfacht wird.

Leitartikel

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SCHULE

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