Blickpunkt Schule 5/2020

züge verdeutlichen soll, der über individuelle Ansprache Bezüge aufdecken und erlahmendes Interesse wieder schonend wachrufen soll und der, wenn dies alles nicht fruchtet und der Stoff dennoch vermittelt werden muss, zu Maßnahmen der Durchsetzung zu greifen hat, nicht über- nehmen kann. Auch dem Schüler selbst ist dies nicht möglich. Denn wäre er sein eigener Lehrer, so müsste er im Falle von Des- interesse und Motivationslosigkeit einen unmittelbaren Zwang auf sich selber ausüben, ein pädagogisches Kunst- stück. Das wusste im Übrigen schon der Volksmund, in dem der Satz kursiert: »Wer sich selbst zum Schüler hat, der hat einen Esel zum Lehrer«. Die Beschäftigung mit Technologiemöglichkeiten und die Feststellung von ’Technologiedefiziten’ in der Pädago- gik sind ein Dauerthema der Disziplin. Der Anspruch, Erzie- hung und Lernen von ungewollten und zufälligen Wirkun- gen befreien und diese Prozesse in eine zielgerichtete Technologie überführen zu können, ist immer wieder erho- ben und immer wieder verworfen worden. Die im 19. Jahr- hundert häufig anzutreffende Vorstellung, dass die Päda- gogik eines Tages eine so exakte Disziplin wie die Physik oder die Medizin sein würde, ist ebenso enttäuscht worden wie alle späteren Versuche, Erziehung und Lernen technik- fähig zu machen. In den 1970er-Jahren stand kurzfristig das Konzept ei- nes »programmierten Lernens« im Fokus der Unterrichts- theorie. Das Konzept verknüpfte behavioristische Lernvor- stellungen mit den Ansprüchen einer kybernetisch-infor- mationstheoretischen Didaktik und sah konkret eine Un- terteilung des Unterrichtsstoffes in kleinteilige Lerneinhei- ten vor, die logisch aufeinander aufbauen und nacheinander bearbeitet werden sollten. Auch dieser An- satz war mit der Vorstellung eines eigenständigen, selbst- kontrollierten Lernens an Hand von Tafeln und Texten unter Reduktion der Lehrerrolle verbunden. Es zeigte sich aber bald, dass die Aufteilung des Stoffes in kleine operative Einheiten eigentlich nur für die naturwissenschaftlichen Fächer taugte, weil nur hier der Dualismus von Ja-/Nein- Antworten Anwendung finden konnte und dass auch die motivationale Basis der Schüler falsch eingeschätzt wurde, die ohne kooperative Formen und ohne Anregungen durch den Lehrer verflachte. Ein ähnliches Schicksal erfuhren die in den 1980er-Jah- ren in Mode gekommenen ’Sprachlabore’, von deren tech- nischer Ausrüstung man sich eine erhebliche Verbesserung des Erwerbs einer Fremdsprache versprach. Auch in diesem Falle enttäuschte der Einsatz von Medien auf ganzer Linie und die Labore fristeten bald ein Dasein als schulische Ab- stellkammern. Pädagogik und gesellschaftliche Trends Es ist nicht das erste Mal, dass die Pädagogik von einem gesellschaftlichen Trend erfasst wird, der zunächst einmal nichts genuin Pädagogisches aufweist, von dem aber bald

verbreitet wird, er würde bei Einbeziehung in das Feld von Schule und Erziehung für positive Veränderungen sorgen. Als es Ende der 1950er-Jahre zum sogenannten »Sput- nikschock« kommt, weil es so aussieht, als könnte der Os- ten den Kalten Krieg gegen denWesten gewinnen, wird eine Schul- und Bildungsreform für nötig erachtet und in Gang gesetzt, um dies zu verhindern. Der pädagogischen For- schung standen zu diesem Zeitpunkt aber überhaupt keine neuen Erkenntnisse zur Verfügung, die eine fortschrittliche Modernisierung hätte rechtfertigen können. Die schnell ein- geleiteten Reformschritte erwiesen sich deshalb bald als untaugliche Verbesserungsversuche und wurden nach einer Weile stillschweigend wieder zurückgenommen. Als Ende der 1960er-Jahre eine antiautoritäre Jugend- und Studentenbewegung mit einer Vielzahl widersprüchli- cher Politikvorstellungen die Gesellschaft aufzumischen versucht, verändert die sich gerade auf demWeg zu einer »empirischen Wendung« befindliche Pädagogik abrupt ih- ren Charakter und verwandelt sich in eine Philosophie der politischen Befreiungsbewegung. Als es dann mit der so- zialen Bewegung zu Ende geht, bleibt eine theoretische Pädagogik ratlos zurück. Auch der Gedanke der ’Inklusion’ ist keine pädagogische Idee, sondern eine ethisch-moralische Forderung einer internationalen politischen Organisation. Trotzdemmacht sich der Mainstream der Pädagogik diese sofort zu eigen und scheitert seither an ihrer praktischen Durchsetzung. Gleiches gilt für das Problemmit der ’Heterogenität’. Dies ist zunächst ein von Vertretern des Multikulturalismus begrüßter gesellschaftlicher Zustand, der sich alsbald in Schulen und Klassen abbildet. In der Pädagogik werden nun keinesfalls Risiken für Lernen und Unterrichtung gese- hen, obwohl Erfahrung und Daten für Differenzierung und Homogenität sprechen, sondern Chancen betont, die bis heute unsichtbar bleiben. Die Pädagogik nimmt also gerne Trends, Moden oder Zeitgeiststimmungen des nichtwissenschaftlichen, gesell- schaftlichen Bereichs auf und verspricht vorschnell Lösun- gen, ohne überhaupt eine gründliche Machbarkeitsprüfung vorgenommen zu haben. Richtig ist allerdings auch, dass gesellschaftliche Instanzen Probleme an die Pädagogik herantragen und entsprechende Erwartungen schüren, de- nen dann zumeist auch entsprochen wird. Dies ist professionstaktisch vorteilhaft, weil es die Päda- gogik im Gespräch hält und ihre Bedeutung unterstreicht. Für ein prinzipiell fortschrittsunfähiges Fach, das nicht in der Lage ist, die beharrlich statischen Grundzüge seines Gegenstandes zu dynamisieren, ist eine solche Verhaltens- weise natürlich überlebensnotwendig, es sei denn, die Tar- nung fliegt auf. Neue Entdeckungen mit Bedeutung für die Verbesse- rung von Lehr- und Lernprozessen hat die Pädagogik schon lange nicht mehr gemacht und deshalb ist sie grundsätz- lich erfreut über jede neue gesellschaftliche Welle, die sie wie ein Surfer abreiten kann. Und die jüngste Welle ist die der Digitalisierung. Prof. Dr. Dieter Neumann

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