Der historische Roman ‚Die Ver-
messung der Welt‘ von Daniel
Kehlmann sorgte im Jahr 2005 für
großes Aufsehen. Die humorvoll
und intelligent geschriebene Ge-
schichte des Mathematikers Jo-
hann Carl Friedrich Gauß und des
Naturforschers und Weltreisenden
Alexander von Humboldt brachte
den Lesern das fiktive Innenleben
sowie das Schaffen dieser beiden
bedeutenden Persönlichkeiten des
18./19. Jahrhunderts nahe. Das
Buch war der Durchbruch für den
damals 30-jährigen Autor.
Mit TYLL hat Kehlmann nun wieder
einen Roman vorgelegt, der einer
historischen Figur Leben einhaucht.
Doch wer glaubt, eine Biografie der
mittelalterlichen Schelmenfigur Till
Eulenspiegel zu lesen, der irrt: Tyll
Ulenspiegel, der Protagonist des
Romans, wird von Kehlmann in
das 17. Jahrhundert ‚gedichtet‘.
Als Sohn eines Müllers geboren,
muss er als Kind aus seinem Dorf
fliehen und beginnt ein Leben als
geschickter und dreister Gaukler. Er
hält seine Mitmenschen zumNarren
und ist doch selbst eine gebroche-
ne Persönlichkeit, die schon allzu
viel ertragen musste.
Der gebeutelte Protagonist bewegt
sich dabei innerhalb einer noch viel
größeren Geschichte – der des
Dreißigjährigen Krieges. Vermeint-
lich im Namen des Glaubens, doch
vor allem zum Zwecke des Macht-
erhalts, wird von allen Seiten ge-
schossen, gefoltert, und gehängt.
Es geht um nichts weniger als die
Vorherrschaft im ‚Heiligen Römi-
schen Reich Deutscher Nation‘.
Von 1618 bis 1648 wüten die Heere
der habsburgischen Herrscher aus
Österreich und Spanien sowie die
der Franzosen, Niederländer, Däne-
marks und Schwedens in der Mitte
Europas und hinterlassen eine Spur
der Verwüstung und des Elends.
Tyll Ulenspiegel begleitet im Verlauf
des Romans auch eine Zeit lang den
glücklosen Pfalzgrafen und Kurfürs-
ten der Pfalz, Friedrich den V., der
eine Schlüsselfigur dieses Krieges
und als sogenannter ‚Winterkönig‘
nur ein Jahr lang König von Böh-
men war. Jener kann nicht fassen,
dass niemand ihm beim Versuch,
die Kurwürde zurückzuerlangen,
zur Seite steht – außer Tyll, dem
Narren. Der König stirbt schließlich
an der zu dieser Zeit immer wieder
grassierenden Pest und Tyll bleibt
nichts andres übrig, als weiterzu-
ziehen. Der Leser folgt und staunt.
Szenen auf den Schlachtfeldern
zwischen den Kriegsfronten und in
Söldnerlagern erzählt Kehlmann in
einer erschreckenden Unmittelbar-
keit. Den Geruch des Todes und der
Verzweiflung meint der Leser man-
ches Mal wahrnehmen zu können.
Tyll ist keinesfalls eine leichte Kost.
Doch verleitet die kunstvolle Erzähl-
art des Autors dazu, weiterzulesen,
einzutauchen und sich mit dieser
allzu absurden ‚Kriegs-Welt‘ aus-
einanderzusetzen. Auch wenn die
Schelmenfigur Eulenspiegel fak-
tisch nicht in diese Epoche gehört,
scheint sie doch sehr gut in jene
Zeit der Glaubenskriege zu passen.
Es lohnt sich also, dieses knapp
500 Seiten starke Buch zur Hand
zu nehmen.
Für Sie gelesen
TYLL von Daniel Kehlmann
TYLL
von Daniel Kehlmann
Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
Verlag: Rowohlt
ISBN-10: 3498035673
Preis: 22,95 Euro
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CellitinnenForum 3/2018