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3 / 2016
Artikel: Björn Drescher, Drescher & Cie.
Fonds-Graphologie
Einem Namenswissenschaftler reicht im Regelfall der (Vor-)Name
eines Menschen, um relativ genau eingrenzen zu können, wann
die entsprechende Person geboren wurde. Wilhelm, Friedrich,
Hans und Anna beispielsweise gehören an die Anfänge des letzten
Jahrhunderts. Die Kinder durften wie der Kaiser heißen. Christian,
Stefan, Ralf, Michael und Nicole, die Zeit der Babyboomer in den
70ern. In den 90ern dann Jan, Julia, Lisa und Kevin (manchmal
auch "allein zu Haus"), man lehnte sich an Filme an. Zur Jahrtau-
sendwende: Lukas, Niklas und Marie. Und heute: Ben, Emma, Leon
und Mia. Kurzum: Der Mensch geht mit der Mode. Was ihm bei an-
deren gefällt, wird nachgeahmt.
Ähnlich verhält es sich mit den Investments. Marktkenner, die
mehr als zwei Jahrzehnte im Geschäft sind, können oft schon al-
lein aus dem Stil, um nicht zu sagen aus der Handschrift eines
ihnen vorgelegten und lange Zeit nicht veränderten Fonds-Port-
folios ablesen, wann es in etwa zusammengestellt wurde.
Manchmal erkennt man sogar, von welchem Institut oder Ver-
trieb es stammt. Aufschluss bietet dabei nicht nur die Art der ge-
wählten Fonds und ihre Anbieter, sondern auch ihr Zuschnitt und
das zugrundeliegende Anlageuniversum.
Kostproben gefällig? Nationale und europäische Rentenfonds in
Kombination mit nationalen und internationalen Aktienfonds,
nicht selten amerikanischen Klassikern? - Dann haben wir es zu-
meist mit der Folgezeit des IOS-Skandals in den 1970ern und
80ern zu tun. Sind die Portfoliobausteine speziell Länder-; Neben-
werte- und (Bio-)Technologiefonds? - Überlebende der TMT-Bubble
Ende der 90er. Old-Economy, Value-Bias und Total-Return-Fonds
der ersten Generation? Die folgenden Jahre nach dem Knall. Liegt
eine Häufung von Dach-, Target-, Regionen- und internationalen
Schwellenländerfonds und rentenbasierten Extravaganzen wie
ABS-Strukturen vor? – Dann wurde das Portfolio in den Jahren
2005 bis 2008 zusammengebaut. Detaillierteren Rückschluss
auf den Beratungs- oder Selbstanlagezeitpunkt während dieser
Jahre liefert der Grad an (aufzulösenden) Immobilienfonds(-Res-
ten) und die Menge an Commodity-Fonds im Depot. Hedgefonds-
ähnliche Publikumsfondsstrukturen? - 2009 bis 2011, da wurde
gekauft, was in der Finanzkrise hielt. Und zuletzt, bis heute: ETF-
und Mischfonds: Je höher der Anteil an Multi-Strategie-Fonds und
alternativen Strategien in Relation zu klassischen Multi-Asset-
Fonds, um so näher sind wir an der Gegenwart.
Während die einen aus diesen Zeitreihen und Strickmustern
die Evolution und den Reifegrad der Fondsindustrie ablesen
wollen, behaupten andere – nicht selten Kritiker der Misch-
fondsidee – erkennen zu können, dass die Anleger bis heute
nichts dazu gelernt haben und immer noch blind jeder Mode
folgen. Argumentarien und Sympathien ließen sich sicher für
beide Betrachtungsweisen finden. Und man muss gerechter-
weise feststellen, dass es bestimmte Fondstypen erst ab be-
stimmten Zeitpunkten überhaupt gab.