RECHTSPRECHUNG
6/2016
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poenale
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Stämpfli Verlag
scheid im Gegensatz zur heutigen «Beschluss/Beschwerde»Lösung nicht vollstreckbar und die Betroffenen benötigen,
will man sie nicht entlassen, einen alternativen Hafttitel – die
Position der Betroffenen nicht wirklich verbessert. Ohnehin
weckt es rechtsstaatliche Bedenken, wenn das gerichtliche
Nachverfahren (insbesondere im Kontext von freiheitsent
ziehenden Massnahmen) gesetzlich nur sehr rudimentär ge
regelt ist. Hier obliegt es dem Gesetzgeber, ganz grundsätz
lich ausreichende gesetzliche Grundlagen zu schaffen.
Alain Joset, Advokat und Fachanwalt SAV Strafrecht
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2. Strafverfahrensrecht
Procédure pénale
Nr. 38
Bundesgericht, I. öffentlichrechtliche Abteilung,
Urteil vom 23. Mai 2016 i. S. A. gegen B. und
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau –
1B_11/2016
Art. 30 StPO: Nichtigkeit bei unsachlicher Verfahrens
trennung.
Belasten sich die Beschuldigten gegenseitig und ist un
klar, welcher Beschuldigter welchen Tatbeitrag geleistet
hat, besteht bei einer Verfahrenstrennung die Gefahr
sich widersprechender Entscheide, sei es in Bezug auf die
Sachverhaltsfeststellung, die rechtliche Würdigung oder
die Strafzumessung. Ein derartiger Widerspruch lässt
sich nur bei einer einheitlichen Führung des Verfahrens
vermeiden. Sprechen des Weiteren die Gesichtspunkte
der Prozessökonomie und des Beschleunigungsgebots
nicht für, sondern gegen eine Abtrennung, ist die Ver
fahrenstrennung sachlich nicht begründet.
Ein Entscheid ist nichtig, wenn der ihm anhaftende Man
gel besonders schwer und offensichtlich oder zumindest
leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die
Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird.
Als Nichtigkeitsgrund fallen hauptsächlich funktionelle
und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie
schwerwiegende Verfahrensfehler in Betracht.
Ist in einem Verfahren, in dem eine Verfahrenstrennung
sachlich nicht begründet ist, gegen einen Mitbeschuldig
ten das abgekürzte Verfahren durchgeführt worden, sind
die Anklageschrift und das die Anklageschrift genehmi
gende Urteil in einem unzulässigen Verfahren ergangen,
weshalb es diese Rechtsakte nie hätte geben dürfen. Die
in welchem sich eine «NullRisikoHaltung» und die Angst
der Strafund Vollzugsbehörden vor einer medialen Skanda
lisierung etabliert haben, in Zukunft wohl immer häufiger
werden. Das Beschwerdeverfahren wird vom Bundesgericht –
unter Hinweis «auf den klaren gesetzgeberischen Willen» –
mit zahlreichen Abweichungen vom gesetzlich vorgesehenen
Regelbeschwerdeverfahren so zurechtgezimmert, dass das
(Rechtsmittel)Verfahren der inhaltlichen Tragweite und der
Eingriffsintensität des Entscheids gerecht wird. Der Hinweis
des Bundesgerichts auf den «klaren gesetzgeberischen Wil
len» und seine technischgrammatikalische Auslegung der
entsprechenden StPOBestimmungen in BGE 141 IV 396 sind
insofern (etwas) erstaunlich, als die I. öffentlichrechtliche
Abteilung des Bundesgerichts in anderen Bereichen des Straf
prozessrechts, namentlich im Haftrecht, nicht gezögert hat,
«contra legem» ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft
einzuführen (vgl. BGE 137 IV 22, krit. dazu: Oberholzer,
Der lange Weg zur Haftentlassung oder das neue Auslegungs
prinzip der «Gewährleistung des Beschwerderechts der
Staatsanwaltschaft», in: FP 2012, 156 ff.). Auch die Praxis
des Bundesgerichts zur «vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft»
scheint die Haltung der Legislative aus reinen Zweckmässig
keitsüberlegungen nicht allzu ernst zu nehmen (vgl. Joset/
Husmann, Freiheitsentzug jenseits des Rechts – eine Kritik
der «vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft», in: FP 2016,
165 ff.). Man hätte sich auch vorstellen (oder wünschen) kön
nen, dass das Bundesgericht ein (mögliches) Versehen des
Gesetzgebers auch mal zugunsten von beschuldigten Perso
nen oder verurteilten Straftätern korrigiert. Das Bundesge
richt propagiert nämlich bei der Gesetzesauslegung die
«sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, aus
gerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis»
(BGE 141 IV 396 E. 3.4 m.w.H.). Mit dieser Maxime könn
ten einige Unzulänglichkeiten der Strafprozessordnung –
auch zugunsten der Betroffenen – korrigiert werden.
Bei der bevorstehenden Revision der StPO sollte der
Gesetzgeber deshalb den Argumenten eines nicht unerhebli
chen Teils des Schrifttums Rechnung tragen und Entscheide
der Strafgerichte im gerichtlichen Nachverfahren (Art. 363 ff.
StPO), mindestens in denjenigen Verfahren des Massnah
menrechts, in denen regelmässig massive Einschränkungen
der persönlichen Freiheit des Betroffenen zur Diskussion ste
hen (d. h. bei nachträglicher Anordnung einer stationären
therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 65 Abs. 1
StGB, bei der [nachträglichen] Anordnung oder Verlängerung
einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von
Art. 59 Abs. 4 StGB bzw. Art. 62c Abs. 3 und 6 StGB sowie
die [nachträgliche] Anordnung der Verwahrung gemäss
Art. 62c Abs. 4 StGB), der Berufung unterstellen. Allerdings
muss in diesem Zusammenhang reklamiert werden, dass im
gleichen Zug für den Bereich der vollzugsrechtlichen Sicher
heitshaft klare gesetzliche Grundlagen geschaffen werden
müssten, ansonsten sich in rechtsstaatlicher Hinsicht – durch
die «Urteil/Berufung»Lösung wird der erstinstanzliche Ent