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RECHTSPRECHUNG

6/2016

forum

poenale

325

Stämpfli Verlag

scheid im Gegensatz zur heutigen «Beschluss/Beschwerde»Lösung nicht vollstreckbar und die Betroffenen benötigen,

will man sie nicht entlassen, einen alternativen Hafttitel – die

Position der Betroffenen nicht wirklich verbessert. Ohnehin

weckt es rechtsstaatliche Bedenken, wenn das gerichtliche

Nachverfahren (insbesondere im Kontext von freiheitsent­

ziehenden Massnahmen) gesetzlich nur sehr rudimentär ge­

regelt ist. Hier obliegt es dem Gesetzgeber, ganz grundsätz­

lich ausreichende gesetzliche Grundlagen zu schaffen.

Alain Joset, Advokat und Fachanwalt SAV Strafrecht

2. Strafverfahrensrecht

Procédure pénale

Nr. 38

Bundesgericht, I. öffentlichrechtliche Abteilung,

Urteil vom 23. Mai 2016 i. S. A. gegen B. und

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau –

1B_11/2016

Art. 30 StPO: Nichtigkeit bei unsachlicher Verfahrens­

trennung.

Belasten sich die Beschuldigten gegenseitig und ist un­

klar, welcher Beschuldigter welchen Tatbeitrag geleistet

hat, besteht bei einer Verfahrenstrennung die Gefahr

sich widersprechender Entscheide, sei es in Bezug auf die

Sachverhaltsfeststellung, die rechtliche Würdigung oder

die Strafzumessung. Ein derartiger Widerspruch lässt

sich nur bei einer einheitlichen Führung des Verfahrens

vermeiden. Sprechen des Weiteren die Gesichtspunkte

der Prozessökonomie und des Beschleunigungsgebots

nicht für, sondern gegen eine Abtrennung, ist die Ver­

fahrenstrennung sachlich nicht begründet.

Ein Entscheid ist nichtig, wenn der ihm anhaftende Man­

gel besonders schwer und offensichtlich oder zumindest

leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die

Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird.

Als Nichtigkeitsgrund fallen hauptsächlich funktionelle

und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie

schwerwiegende Verfahrensfehler in Betracht.

Ist in einem Verfahren, in dem eine Verfahrenstrennung

sachlich nicht begründet ist, gegen einen Mitbeschuldig­

ten das abgekürzte Verfahren durchgeführt worden, sind

die Anklageschrift und das die Anklageschrift genehmi­

gende Urteil in einem unzulässigen Verfahren ergangen,

weshalb es diese Rechtsakte nie hätte geben dürfen. Die­

in welchem sich eine «NullRisikoHaltung» und die Angst

der Strafund Vollzugsbehörden vor einer medialen Skanda­

lisierung etabliert haben, in Zukunft wohl immer häufiger

werden. Das Beschwerdeverfahren wird vom Bundesgericht –

unter Hinweis «auf den klaren gesetzgeberischen Willen» –

mit zahlreichen Abweichungen vom gesetzlich vorgesehenen

Regelbeschwerdeverfahren so zurechtgezimmert, dass das

(Rechtsmittel)Verfahren der inhaltlichen Tragweite und der

Eingriffsintensität des Entscheids gerecht wird. Der Hinweis

des Bundesgerichts auf den «klaren gesetzgeberischen Wil­

len» und seine technischgrammatikalische Auslegung der

entsprechenden StPOBestimmungen in BGE 141 IV 396 sind

insofern (etwas) erstaunlich, als die I. öffentlichrechtliche

Abteilung des Bundesgerichts in anderen Bereichen des Straf­

prozessrechts, namentlich im Haftrecht, nicht gezögert hat,

«contra legem» ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft

einzuführen (vgl. BGE 137 IV 22, krit. dazu: Oberholzer,

Der lange Weg zur Haftentlassung oder das neue Auslegungs­

prinzip der «Gewährleistung des Beschwerderechts der

Staatsanwaltschaft», in: FP 2012, 156 ff.). Auch die Praxis

des Bundesgerichts zur «vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft»

scheint die Haltung der Legislative aus reinen Zweckmässig­

keitsüberlegungen nicht allzu ernst zu nehmen (vgl. Joset/

Husmann, Freiheitsentzug jenseits des Rechts – eine Kritik

der «vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft», in: FP 2016,

165 ff.). Man hätte sich auch vorstellen (oder wünschen) kön­

nen, dass das Bundesgericht ein (mögliches) Versehen des

Gesetzgebers auch mal zugunsten von beschuldigten Perso­

nen oder verurteilten Straftätern korrigiert. Das Bundesge­

richt propagiert nämlich bei der Gesetzesauslegung die

«sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, aus­

gerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis»

(BGE 141 IV 396 E. 3.4 m.w.H.). Mit dieser Maxime könn­

ten einige Unzulänglichkeiten der Strafprozessordnung –

auch zugunsten der Betroffenen – korrigiert werden.

Bei der bevorstehenden Revision der StPO sollte der

Gesetzgeber deshalb den Argumenten eines nicht unerhebli­

chen Teils des Schrifttums Rechnung tragen und Entscheide

der Strafgerichte im gerichtlichen Nachverfahren (Art. 363 ff.

StPO), mindestens in denjenigen Verfahren des Massnah­

menrechts, in denen regelmässig massive Einschränkungen

der persönlichen Freiheit des Betroffenen zur Diskussion ste­

hen (d. h. bei nachträglicher Anordnung einer stationären

therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 65 Abs. 1

StGB, bei der [nachträglichen] Anordnung oder Verlängerung

einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von

Art. 59 Abs. 4 StGB bzw. Art. 62c Abs. 3 und 6 StGB sowie

die [nachträgliche] Anordnung der Verwahrung gemäss

Art. 62c Abs. 4 StGB), der Berufung unterstellen. Allerdings

muss in diesem Zusammenhang reklamiert werden, dass im

gleichen Zug für den Bereich der vollzugsrechtlichen Sicher­

heitshaft klare gesetzliche Grundlagen geschaffen werden

müssten, ansonsten sich in rechtsstaatlicher Hinsicht – durch

die «Urteil/Berufung»Lösung wird der erstinstanzliche Ent