JURISPRUDENCE
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6/2016
328
Stämpfli Verlag
Abteilung des Bundesgerichts hat einer anwaltlich ver
tretenen Beschwerdeführerin in einem anderen Urteil vor
gehalten, sie könne sich nicht auf einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil berufen, wenn sie auf einen
Rechtsbehelf (Siegelung) verzichtet habe (BGer, Urteil v.
6. 10. 2015, 1B_187/2015, E. 1.3.2.). Auch B. hätte vorge
halten werden müssen, er habe es unterlassen, für seine Be
schwerde gegen die Verfahrenstrennung die aufschiebende
Wirkung zu beantragen. Erst dadurch wäre es der Staats
anwaltschaft untersagt gewesen, die Anklage an das Ge
richt zur Durchführung der Hauptverhandlung im abge
kürzten Verfahren zu überweisen. Staatsanwaltschaft und
Bezirksgericht hätten zwar von sich aus mit der Überwei
sung der Anklage bzw. der Durchführung der Hauptver
handlung im abgekürzten Verfahren gegen A. zuwarten
können, wofür es allerdings keine ausdrückliche gesetzliche
Grundlage gegeben hätte (Ziegler/Keller, in: Niggli/
Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), BSK StPO, 2. Aufl., Basel
2014, Art. 387 N 1b). Ohne gesetzliche Grundlage für ein
solches Zuwarten, ohne Anordnung der aufschiebenden
Wirkung durch die Beschwerdeinstanz sowie angesichts
der Haftsituation von A., kann die Weiterführung des ab
gekürzten Verfahrens kaum als «besonders schwerwiegen
der Mangel» bezeichnet werden. Jedenfalls erscheint die
Behauptung des Bundesgerichts unzutreffend, nur die Fest
stellung der Nichtigkeit erlaube es, zu verhindern, dass
Staatsanwaltschaft und Gericht in solchen Fällen «vollen
dete Tatsachen» schafften.
Es bleibt zu hoffen, das Bundesgericht werde an diesen
Erwägungen zur Nichtigkeit nicht festhalten, denn die Fol
gen wären kaum absehbar, müssten doch auch Urteile in
getrennten Verfahren als nichtig erachtet werden, wenn
diese aus sachlich nicht zu rechtfertigenden Gründen nicht
vereinigt wurden. Auch ein Strafbefehl, der ausgefällt wird,
weil die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt (trotz abwei
chender Aussagen von Mitbeschuldigten) als «anderweitig
ausreichend geklärt» erachtet, stünde unter dem Damok
lesschwert der Nichtigkeit, denn es könnte von den Mitbe
schuldigten (grundsätzlich jederzeit) behauptet werden, das
Strafbefehlsverfahren gegen den Mitbeschuldigten und die
Anklageerhebung gegen sie selbst seien aufgrund abwei
chender Aussagen «unzulässig» und daher nichtig gewesen.
Jede staatliche Instanz wäre von Amtes wegen verpflichtet,
die gesamten Akten zu studieren und abzuwägen, ob die
Trennung sachlich gerechtfertigt oder eine Vereinigung
sachlich geboten war, was – in den Worten des Bundesge
richtes – «offensichtlich nicht angeht». Nichtigkeit muss ein
Notbehelf bleiben, um krasse Fehlurteile zu korrigieren, die
rechtsstaatlich unerträglich wären. Zur Überprüfung einer
als unsachgemäss empfundene Verfahrensführung genügt
die Beschwerde.
Marko Cesarov, Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Bern
Mittelland
■
«Das Erkennen des Fehlers [Urteil trotz Rückzug der Ein-
sprache] setzt vielmehr das Studium der Verfahrensakten
voraus. Es ist somit weder offensichtlich noch leicht erkenn-
bar.»
(BGer, Urteil v. 23. 1. 2009, 6B_744/2009, E. 1.3.).
Diese Erwägung hätte umso mehr gegolten, da das Akten
studium vorliegend noch deutlich weiter hätte gehen müssen.
Die unterschiedlichen Aussagen der Mitbeschuldigten hätten
analysiert und es hätte abgeklärt werden müssen, welche
Auswirkungen die Abweichungen auf die möglichen Ankla
gevarianten haben könnten, um sodann einschätzen zu kön
nen, wie gewichtig die Gefahr sich widersprechender Urteile
überhaupt ist. Weiter hätte verglichen werden müssen, wel
cher Aufwand durch das abgekürzte Verfahren eingespart
wird und welcher durch die Beurteilung durch zwei verschie
dene Spruchkörper entsteht. Zudem hätte die Haftsituation
desjenigen, der das abgekürzte Verfahren beantragt, berück
sichtigt werden müssen. Erst nach Abwägung dieser Ele
mente kann zuverlässig beurteilt werden, ob eine Verfahren
strennung sachlich gerechtfertigt und das abgekürzte
Verfahren daher zulässig ist. Dass die unsachliche Verfah
renstrennung leicht erkennbar im Sinne der Nichtigkeitsfor
mel gewesen sein soll, ist vor diesemHintergrund nicht nach
vollziehbar. Dies belegt das Bundesgericht insoweit selbst,
als es die Nichtigkeit bereits in seinem ersten Urteil von Am
tes wegen hätte feststellen müssen, wenn der Mangel tat
sächlich derart offensichtlich gewesen wäre.
Es drängt sich der Eindruck auf, das Bundesgericht habe
die Nichtigkeit bejaht, damit – wie es selbst darlegt – Staats
anwaltschaft und Sachgericht nicht «vollendete Tatsachen»
schaffen können, bevor die Zulässigkeit der Verfahrenstren
nung geklärt ist. Doch auch diese Erwägung vermag nicht
zu überzeugen. Im ersten Urteil des Bundesgerichts (Be
schwerde gegen die Trennung der Verfahren) werden die
Anträge von B. aufgeführt: 1. Die Verfügung der Staatsan
waltschaft vom 10. 12. 2015 betreffend die Verfahenstren
nung sei aufzuheben; 2. alle im Zusammenhang mit dem
Tötungsdelikt Beschuldigten seien gemeinsam zu verfolgen
und zu beurteilen; 3. allen Beschuldigten seien alle Akten
aller Beschuldigten zur Einsicht zuzustellen.
Rechtsmittel und damit auch die Beschwerde haben keine
aufschiebende Wirkung (Art. 387 StPO), ausser die Verfah
rensleitung der Beschwerdeinstanz ordne diese an (sog. fa
kultativer Suspensiveffekt). Solange der Beschwerde gegen
die Verfahrenstrennung keine aufschiebende Wirkung gege
ben wird, kann das Verfahren weitergeführt werden. Aus
drücklich entscheiden muss die Verfahrensleitung der Be
schwerdeinstanz die Frage nur, wenn sie die aufschiebende
Wirkung erteilt, entweder auf Gesuch des Beschwerdefüh
rers oder von Amtes wegen, andernfalls wird diese konklu
dent verweigert (Guidon, Die Beschwerde gemäss Schwei
zerischer Strafprozessordnung, Zürich 2011, N 494–496).
B. hat die aufschiebende Wirkung gegen die Verfahren
strennung nicht beantragt und diese wurde vom Ober
gericht auch nicht von Amtes wegen angeordnet. Dieselbe