RECHTSPRECHUNG
6/2016
forum
poenale
327
Stämpfli Verlag
Die Rechtssicherheit steht der Annahme der Nichtigkeit
nicht entgegen. Als im abgekürzten Verfahren die Staatsan
waltschaft dem Bezirksgericht die Anklage einreichte und
dieses sein Urteil fällte, war die Frage, ob dieses Verfahren
zulässig war, noch nicht rechtskräftig geklärt. Entsprechend
musste den Beteiligten von Anfang an bewusst sein, dass
die im abgekürzten Verfahren vorgenommenen Prozess
handlungen hinfällig werden könnten.
Wenn die Vorinstanz die Nichtigkeit der Anklageschrift
vom 18. Dezember 2014 und des Urteils des Bezirksgerichts
vom 26. März 2015 festgestellt hat, hält das daher vor Bun
desrecht stand. Wollte man anders entscheiden, könnten –
was offensichtlich nicht angeht – die Staatsanwaltschaft und
das Sachgericht in einem Fall wie hier vollendete Tatsachen
schaffen, bevor die Zulässigkeit der Verfahrenstrennung im
Rechtsmittelverfahren geklärt ist.
[…]
Bemerkungen:
Wenn Mittäterschaft oder Teilnahme (Gehilfenschaft, An
stiftung) vorliegen, werden Straftaten gemeinsam verfolgt
und beurteilt (Art. 29 Abs. 1 Bst. b StPO). Die Staatsan
waltschaft und die Gerichte können aus sachlichen Grün
den Strafverfahren trennen oder vereinen (Art. 30 StPO).
Decken sich die Aussagen von Mitbeschuldigten nicht, muss
anhand weiterer Beweismittel (Zeugen, Spuren, Gutachten,
Verletzungsbild etc.) beurteilt werden, welche Darstellung
schlüssig ist und die Anklage bzw. eine Verurteilung tragen
kann. Ist die Staatsanwaltschaft überzeugt, die Darstellung
desjenigen, der das abgekürzte Verfahren beantragt, stimme
mit den Akten überein, scheint es vertretbar, die Trennung
des Verfahrens zu verfügen und die Akten dem Gericht zur
Prüfung vorzulegen, denn das Gericht befindet frei darüber,
ob die Durchführung des abgekürzten Verfahrens rechtmäs
sig und angebracht ist und, ob die Anklage mit dem Ergeb
nis der Hauptverhandlung und den Akten übereinstimmt
(Art. 362 Abs. 1 Bst. a und b StPO). Teilt das Gericht die
Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht, erachtet es die
Gefahr sich widersprechender Urteile für zu gewichtig oder
erkennt es keinen Effizienzgewinn, dann weist es die Akten
zur Durchführung des ordentlichen Verfahrens zurück
(Art. 362 Abs. 3 StPO).
Vorliegend kamen offenbar sowohl Staatsanwaltschaft
als auch Bezirksgericht zum Schluss, die Darstellung von A.
sei schlüssig und stimme – trotz anderweitiger Behauptun
gen von B. – mit den Akten überein. Um zu beurteilen, ob
diese Einschätzungen sachlich gerechtfertigt waren, müsste
man die gesamten Akten kennen. Dies spricht nun jedoch
deutlich dagegen, dass der Mangel leicht erkennbar war und
steht in Widerspruch zu früheren Entscheidungen des Bun
desgerichts. In einem Fall, wo das Gericht nicht bedachte,
dass die Einsprache als zurückgezogen gilt, wenn der An
geklagte unentschuldigt nicht zur Hauptverhandlung er
scheint, hielt das Bundesgericht zur Erkennbarkeit fest:
Belasten sich die Beschuldigten demnach gegenseitig und
ist unklar, welcher Beschuldigter welchen Tatbeitrag am
Tötungsdelikt geleistet hat, besteht bei einer Verfahrens
trennung nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz
die Gefahr sich widersprechender Entscheide, sei es in Be
zug auf die Sachverhaltsfeststellung, die rechtliche Würdi
gung oder die Strafzumessung. So könnte das Gericht im
ordentlichen Verfahren – was hier in keiner Weise präjudi
ziert werden darf, aber als Möglichkeit in Betracht gezogen
werden muss – zum Schluss gelangen, nicht der Beschwer
deführer, sondern der Beschwerdegegner habe eine unter
geordnete Rolle gespielt. Ein derartiger Widerspruch lässt
sich nur bei einer einheitlichen Führung des Verfahrens ver
meiden.
Die Abtrennung verursachte zudem einen Mehrauf
wand, da nicht mehr nur ein, sondern zwei Verfahren ge
führt wurden. Dies widerspricht der Prozessökonomie.
Im Zeitpunkt der Abtrennung war das Verfahren gegen
den Beschwerdeführer im Übrigen nicht weiter fortgeschrit
ten als dasjenige gegen die anderen Mitbeschuldigten. Mit
Blick auf das Beschleunigungsgebot bestand daher kein
Grund zur Abtrennung.
Unter diesen Umständen verletzt es kein Bundesrecht,
wenn die Vorinstanz zum Schluss gekommen ist, die Ver
fahrenstrennung sei sachlich nicht begründet gewesen.
[…]
3.2.
Ein rechtswidriger Entscheid ist im Allgemeinen anfecht
bar. Von der Anfechtbarkeit zu unterscheiden ist die Nich
tigkeit. Einem nichtigen Entscheid geht jede Verbindlichkeit
und Rechtswirksamkeit ab. Die Nichtigkeit ist jederzeit und
von sämtlichen staatlichen Instanzen von Amtes wegen zu
beachten. Nach der Rechtsprechung ist ein Entscheid nich
tig, wenn der ihm anhaftende Mangel besonders schwer
und offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und
die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit
nicht ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtigkeitsgrund fallen
hauptsächlich funktionelle und sachliche Unzuständigkeit
einer Behörde sowie schwerwiegende Verfahrensfehler in
Betracht (BGE 139 II 243 E. 11.2 S. 260; 138 II 501 E. 3.1
S. 503; je mit Hinweisen).
3.3.
Gegen die Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers
kann kein abgekürztes Verfahren geführt werden. Sie müs
sen sich deshalb im ordentlichen Verfahren verantworten.
Da die Abtrennung des Verfahrens gegen den Beschwerde
führer unzulässig ist, muss auch er sich dem ordentlichen
Verfahren stellen. Das abgekürzte Verfahren hätte daher
nie durchgeführt werden dürfen. Die Anklageschrift vom
18. Dezember 2014 und das Urteil des Bezirksgerichts vom
26. März 2015 ergingen somit in einem unzulässigen Ver
fahren, weshalb es diese Rechtsakte nie hätte geben dürfen.
Dieser Mangel wiegt besonders schwer und ist leicht erkenn
bar.