![Show Menu](styles/mobile-menu.png)
![Page Background](./../common/page-substrates/page0013.jpg)
RECHTSPRECHUNG
6/2016
forum
poenale
331
Stämpfli Verlag
Der Freispruch hindert nicht, über einen adhäsionsweise
geltend gemachten Zivilanspruch materiell zu entscheiden –
sofern der Sachverhalt «spruchreif» ist. Die Straftat – auch
verstanden im Sinne eines «Schuldspruchs» – ist gerade
nicht Voraussetzung für den Entscheid über den Zivilan
spruch. Insoweit ist Sachurteilsvoraussetzung einzig der zi
vilrechtlich geklärte Sachverhalt. Wenn also der ersten In
stanz der Sachverhalt spruchreif erschien, durfte sie urteilen.
Nimmt man zudem die eine Botschaft des vom Verfasser
(in FP 2016, 266 ff.) besprochenen BGE 6B_75/2014 ernst,
dann muss der Strafrichter auch über die Zivilansprüche
entscheiden. Unter der Prämisse, der Sachverhalt sei geklärt
gewesen, hat also die erste Instanz nur das getan, was sie
ohnehin gemäss Gesetzeswortlaut hat tun müssen – näm
lich über den Zivilanspruch entschieden.
II.
4. Das Aargauer Obergericht sieht es anders und ver
weist den Zivilanspruch auf den Zivilweg. Allerdings sind
die obergerichtlichen Überlegungen zum Adhäsionsprozess
alles andere als überzeugend. Insbesondere sind die Aus
führungen über den Effizienzgewinn (E. 5.2.5.) zumindest
ansatzweise widersprüchlich, abgesehen davon, dass sie ei
gentlich auch für die Auslegung der einschlägigen Bestim
mungen keine Rolle spielen können.
5. «Zivilrechtliche Ansprüche aus der Straftat» kann
der Geschädigte «im Strafverfahren geltend machen», so
Art. 122 Abs. 1 StPO. Der Begriff «zivilrechtliche An
sprüche» ist dabei in keiner Hinsicht begrenzt, er ist zu
nächst einmal als Gegensatz zu «strafrechtlichen» Ansprü
chen zu sehen, und umfasst alles, was eine «zivilrechtliche»
Grundlage hat: Schadenersatz, Genugtuung, vermutlich
auch Gewinnherausgabe oder ungerechtfertigte Bereiche
rung, vielleicht sogar Unterlassung, Feststellung und alle
vertraglichen Ansprüche. Mit der vomObergericht zitierten
mehrheitlichen Lehre ist davon auszugehen, dass es keine
Kategorie «adhäsionsweise zulässiger» bzw. Kategorien
«adhäsionsweise unzulässiger» Zivilansprüche gibt. Wenn
das Obergericht behauptet, vertragliche Ansprüche oder
solche auf Schadenersatz seien nicht von Art. 122 StPO er
fasst, dann kann es sich dafür weder auf eine mehrheitliche
Lehrmeinung noch gar auf eine Bundesgerichtspraxis noch
insbesondere die Materialien berufen, sondern nur auf ei
nen Autor.
6. Das Obergericht versteht – entgegen der von ihm er
wähnten Mehrheitslehre – die Bestimmung nun allerdings
nicht weit, sondern sagt, sie sei «eng gefasst». Denn «erfasst
sind nicht sämtliche privatrechtlichen Ansprüche, sondern
nur solche, welche sich aus der Straftat (‹déduites de
l’infraction› bzw. ‹desunte dal reato›) ableiten lassen»
(E. 5.2.4.). Das ist gleichzeitig richtig und falsch: Falsch in
soweit, wenn es damit hätte sagen wollen, es seien nur be
stimmte, und nicht etwa alle Kategorien zivilrechtlicher
Ansprüche gemeint – alles, was seine Grundlage im Zivil
recht hat, ist ein zivilrechtlicher Anspruch. Richtig ist der
Vorteile zu erwarten, wenn das Strafgericht auch vertrag
liche Ansprüche zu behandeln hätte.
Auch aus Sicht der Parteien sind keine Vorteile erkenn
bar, wenn der Strafrichter vertragliche Ansprüche zu prüfen
hätte, zumal unklar ist, inwiefern die dem Zivilprozess
immanenten Verfahrensgrundsätze sowie die entsprechend
damit zusammenhängenden Behauptungsund Substan
tiierungslasten Anwendung zu finden hätten. Liegt ein ver
traglicher Anspruch im Streit, ist den Parteien nicht gedient,
wenn ein Strafgericht als Nebenpunkt in einem Strafverfah
ren quasi kursorisch darüber befindet.
Insgesamt sind die übrigen Auslegungselemente neutral
zu werten, wobei die teleologische Auslegung eher darauf
hindeutet, dass eben gerade nur solche Ansprüche adhäsi
onsweise geltend gemacht werden können, die in unmittel
barem Zusammenhang mit einem tatsächlich erfüllten
Straftatbestand stehen.
5.2.6.
Nach dem Gesagten fallen vertragliche Ansprüche nicht
unter Art. 122 StPO. Entsprechend hätte die Vorinstanz X.
keinen Schadenersatz gestützt auf Art. 97 OR zusprechen
dürfen, sondern die Klage wäre auf den Zivilweg zu verwei
sen gewesen. Die Berufung des Beschuldigten ist in diesem
Punkt gutzuheissen.
[…]
Bemerkungen:
I.
1. Am Entscheid ist möglicherweise das Ergebnis richtig,
wenn man in die Akten schauen könnte, die vorstehend pu
blizierte Begründung wirft indessen Fragen auf. Insoweit
besteht Anlass, die einschlägige, gesetzliche Regelung näher
zu betrachten und dabei festzustellen, dass sie weder lücken
haft noch widersprüchlich ist, weshalb es – entgegen dem
Obergericht – auch gar keine Auslegungsprobleme gibt, je
denfalls nicht die, welche das Obergericht sah.
2. Im Ausgangsfall wurde der Angeklagte erstinstanz
lich freigesprochen. Damit liegt von seiner Seite keine Straf
tat vor, und eine solche kann auch nicht Anspruchsgrund
lage für irgendwelche Forderungen des Geschädigten sein.
Wer als angebliches Opfer einer inexistenten Straftat Zi
vilansprüche gestellt hat, muss dafür eine andere rechtliche
Begründung haben als die zur Anklage gebrachte, aber ge
richtsseitig verneinte Straftat. Seinen Zivilanspruch muss
der Kläger also – sollte man meinen – dann auf dem dafür
vorgesehenen, gewöhnlichen Zivilprozessweg durchsetzen,
den Freigesprochenen kann doch nicht der Strafrichter als
Zivilrichter verurteilen, sagt einem das – gewiss nicht mass
gebliche – Bauchgefühl und das weit massgeblicher erschei
nende Obergericht.
3. Das Gegenteil steht allerdings glasklar in Art. 126
Abs. 1 StPO: «Das Gericht entscheidet über die anhängig
gemachte Zivilklage, wenn es die beschuldigte Person: b.
freispricht und der Sachverhalt spruchreif ist.» Das heisst: